Die Befürworter der Personalisierung wollen die europäische Öffentlichkeit stärken, Skeptiker warnen hingegen vor sprachlich bedingter Abgehobenheit.
Wien/Brüssel. Bereits zum zweiten Mal findet die Europawahl im Zeichen des sogenannten Spitzenkandidatenprinzips statt. Es besagt, dass der Spitzenkandidat der Parteienfamilie, die bei dem Votum die meisten Stimmen erringt, zum EU-Kommissionspräsidenten ernannt werden soll. Erstmals etabliert wurde dieses Prinzip bei der Europawahl 2014 von den christlich- und sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, und zwar gegen den Widerstand der EU-Staats- und Regierungschefs, die bis zu diesem Zeitpunkt für die Postenvergabe zuständig waren. Wie der Prozess nach der kommenden Europawahl ablaufen wird, ist noch offen (siehe links). Doch abseits der machtpolitischen Überlegungen stellt sich die Frage nach den Vor- und Nachteilen des Spitzenkandidatenprinzips.
Für seine Befürworter ist es ein Schritt zur Aufwertung der Europawahl, weil die Spitzenkandidaten grenzüberschreitend um Wählerstimmen werben und somit an der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und eines EU-Wahlvolks mitwirken. Zudem sei das Prozedere transparenter – weil Postenschacher auf Ebene der EU-Staats- und Regierungschefs unterbunden wird. Und zu guter Letzt würden EU-Wähler gestärkt, wenn sie den Chef der Brüsseler Behörde direkt wählen können.
Wer beherrscht alle EU-Sprachen?
Die Gegner des Spitzenkandidatenprinzips halten diese Argumente für fadenscheinig. Sie weisen darauf hin, dass ein echter EU-weiter Wahlkampf aufgrund der sprachlichen Barrieren ohnehin unmöglich sei – keiner der Spitzenkandidaten beherrscht alle Amtssprachen der EU. Hinzu kommt, dass die europäischen Parteienfamilien und die nationalen Parteien nicht gleichzusetzen sind. So findet der Europawahlkampf in Österreich im Namen von ÖVP und SPÖ statt – und nicht unter dem Banner der christlich- und sozialdemokratischen EU-Parteienfamilien. Und zu guter Letzt weisen die Skeptiker darauf hin, dass das Spitzenkandidatenprinzip gewisse Personengruppen ausschließe – nämlich amtierende nationale Politiker, die daheim schlagartig zu „lahmen Enten“ verkommen würden, sollten sie ihren Hut in den europapolitischen Ring werfen.
Letztes Argument ist für die Befürworter des Prinzips allerdings kein Nach-, sondern vielmehr ein Vorteil – weil der Ausschluss amtierender nationaler Politiker für die Entstehung einer genuin europäischen Politikerriege vorteilhaft sei.
Von den bisher fünf bekannten Spitzenkandidaten (siehe unten) hat Manfred Weber, die Nummer eins der EVP, momentan die besten Aussichten auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker. Für Jan Zahradil, den Spitzenkandidaten der momentan drittgrößten Parlamentsfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) gleicht die Kandidatur hingegen einem Himmelfahrtskommando – die künftige Existenz der EKR ist nämlich alles andere als sicher. Der Grund: Das Rückgrat der Fraktion sind die britischen Tories, die (aller Voraussicht nach) ab dem 30. März nicht mehr der EU angehören werden.
Insofern werden die kommenden Wochen und Monate eine Vorentscheidung über die künftigen Allianzen (und Kandidaten) auf der rechten Seite des europapolitischen Spektrums bringen. So wird etwa Matteo Salvini, der Chef der rechtspopulistischen italienischen Lega, am kommenden Mittwoch in Warschau erwartet. Salvini wird mit Jarosław Kaczyński, dem Chef der nationalpopulistischen Regierungspartei PiS, über mögliche Formen der Zusammenarbeit sprechen. PiS ist derzeit das zweitgrößte Mitglied der EKR-Parteienfamilie. (la)
EU-SPITZENKANDIDATEN
Manfred Weber (EVP). Der CSU-Politiker ist der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament und gilt momentan als Favorit für die Nachfolge von Juncker.
Frans Timmermans (S&D). Der Niederländer ist als Vizepräsident der Kommission für den heiklen Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Polen zuständig.
Jan Zahradil (EKR). Der tschechische Konservative tritt für eine Parteienfamilie an, deren künftige Existenz durch den Brexit infrage gestellt wird.
Ska Keller (Grüne). Die europäischen Grünen treten mit einer Doppelspitze an. Keller gilt als europapolitische Nachwuchshoffnung der deutschen Grünen.
Bas Eickhout (Grüne). Der Niederländer Eickhout hat sich im Europaparlament einen Namen als profilierter Klimaschutzexperte gemacht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2019)