Die Regierung steht vor der Abstimmung über das EU-Austrittsabkommen am Dienstag mit dem Rücken zur Wand. Das ist erst der Anfang: Antworten und Szenarien der nächsten Brexit-Etappen.
London. In den Stunden vor dem Votum über das Austrittsabkommen mit der EU nähert sich die politische Temperatur in London dem Siedepunkt. Während die „Sunday Times“ am Sonntag über „extreme Besorgnis“ in der Regierung vor einem möglichen „Putsch“ der Abgeordneten berichtete, warnte Premierministerin Theresa May vor einem „katastrophalen und unverzeihlichen Vertrauensbruch“, sollte das Unterhaus morgen, Dienstag, ihren Brexit-Deal ablehnen. Das Abkommen sieht eine Übergangsfrist für den EU-Austritt bis Ende 2020 vor, garantiert Bürgerrechte und will eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern. Großbritannien will die EU am 29. März um 23 Uhr verlassen. Doch der Weg zu einem geordneten Abgang ist noch weit. Montagabend um 16.30 Uhr mitteleuropäischer Zeit wird May noch einmal vor dem Unterhaus für einen Deal Werbung machen.
Kann Theresa May die Abstimmung gewinnen?
Die britische Premierministerin führt eine Minderheitsregierung, die auf die nordirische DUP angewiesen ist. Gemeinsam haben sie eine Mehrheit von 327 der 650 Sitze. Nicht nur die Opposition, auch die DUP und bis zu 100 Konservative haben bereits angekündigt, gegen den Deal zu stimmen. Selbst Zugeständnisse in letzter Sekunde aus Brüssel und von der Regierung an Kritiker werden das Abkommen nicht durchbringen.
Was geschieht nach einer Niederlage?
Die oppositionelle Labour Party drängt auf Neuwahlen. Es sei nicht eine Frage, „ob, sondern wann“ man nach Scheitern des EU-Deals einen Misstrauensantrag stellen werde, sagte Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Konservative und DUP wollen den Sturz der Regierung dagegen verhindern. Ob das gelingt, hängt auch vom Ausmaß der Niederlage ab. Verliert May mit mehr als 200 Stimmen, „ist schwer zu sehen, wie sie weiterhin Legitimität beanspruchen kann“, so Verfassungsrechtler Vernon Bogdanor. Sie könnte aber auch ihr Amt an einen anderen Konservativen ohne Neuwahlen übergeben, sofern dieser Nachfolger innerhalb von 14 Tagen eine Vertrauensabstimmung gewinnen kann. Bei einem Scheitern ihres Deals muss May, so sie im Amt bleiben kann, dem Unterhaus innerhalb von drei Tagen einen Plan B vorlegen. Möglich ist, dass sie eine Verlängerung der Brexit-Verhandlungen nach Artikel 50 bei der EU beantragt. Brexit-Hardliner wären empört, sind aber nicht die stärkste Fraktion. Labour signalisierte erstmals Zustimmung zur Verlängerung. Ein neues Referendum kann es nur per Gesetzesbeschluss geben. Weder die Tory- noch die Labour-Führung befürworten dies, dafür eine wachsende Zahl an Hinterbänklern. Die Trennung verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern Pro- und Anti-Brexit. Laut Umfragen wollen beim Scheitern des Deals 47 Prozent der Wähler eine neue Volksabstimmung.
Ist der Hard Brexit unvermeidlich?
Scheitert Mays Deal und gibt es keine Verlängerung, kommt der harte Brexit. Großbritannien scheidet dann ohne Vereinbarung aus der EU aus und muss neue Regeln ausarbeiten. Derzeit sind im Vereinigten Königreich 12.000 EU-Bestimmungen in Kraft, Neuverhandlungen würden Jahre dauern. Bis dahin würden WTO-Regeln gelten mit Tarifen – etwa in der Landwirtschaft von bis zu 35 Prozent. Die Rechte der EU-Bürger müssten ebenfalls neu verhandelt werden. In Großbritannien leben 3,5 Millionen Bürger aus anderen EU-Staaten. Um einen harten Brexit zu verhindern, will laut „Sunday Times“ eine Gruppe von Abgeordneten der Regierung das Initiativrecht entreißen.
Was sagt die EU?
Eine Nachspielzeit kann es nur mit Zustimmung Brüssels geben. Eine Verlängerung des Brexit-Dramas bedeutet nicht nur Fortbestand der Unsicherheit, sondern wirft auch Fragen für die Europaparlamentswahlen im Mai und das nächste EU-Budget 2021–27 auf. Niemand unter den EU-27 will aber einen „No Deal“-Brexit. Sollte Großbritannien den Austrittsantrag nach Artikel 50 zurückziehen wollen, hätte das Land nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs einseitig jederzeit das Recht zu einem „Exit vom Brexit“.
Gibt es einen Ausweg?
Ex-Premier John Major fordert genau das: Rücknahme von Artikel 50, eine „nationale Konversation“ darüber, was Großbritannien eigentlich will, und danach eine neue Volksabstimmung. May ist zum neuen Referendum nur bereit, wenn es der letzte Ausweg ist, eine Labour-Regierung zu verhindern. Die Labour Party ist aber ebenfalls eine Brexit-Partei, sie verspricht einen „besseren Deal“, nicht einen „Rexit“. Am wahrscheinlichsten scheint, dass May nach einer Abstimmungsniederlage die EU um eine Verlängerung ersucht – gleich für zwei Jahre. Denn bis heute gibt es keine mehrheitsfähige Variante. May könnte so ihr Gesicht wahren: Sie sagte stets, sie wolle „das Land bis zur nächsten Parlamentswahl aus der EU geführt haben“. Letztmöglicher Termin dafür ist der 5. Mai 2022.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2019)