Mit einem Verbleib der Briten in einer Zollunion wäre das größte Problem des britischen EU-Austritts vorerst gelöst. EU-Ratspräsident Tusk schlägt Verlängerung der Frist vor. Doch gegen einen langen Aufschub mehrt sich Widerstand.
Brüssel/London. Die Bereitschaft der britischen Premierministerin, Theresa May, nach mehr als zwei Jahren Funkstille nun im letzten Moment doch noch mit Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Arbeiterpartei über eine Lösung für die Brexit-Krise zu reden, sorgt diesseits des Ärmelkanals für zumindest leichte Zuversicht. Sollte May mithilfe von Labour nun doch das Austrittsabkommen durch das Unterhaus bringen und mit diesem Ergebnis beim Sondergipfeltreffen mit den 27 Staats- und Regierungschefs der Unionsmitglieder am kommenden Mittwoch den Vorschlag machen, nach einer planmäßigen Übergangsphase in einer Zollunion mit der EU zu bleiben, würde es dagegen seitens der Europäer wohl kaum Widerstand geben. Denn mit dieser Lösung – einer von Corbyn geforderten Zollunion – ließe sich das größte Problem im Umgang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU lösen: die neue EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland.
Es dreht sich um die EU-Wahl
Doch so unsicher diese Variante angesichts der Fragilität der Mehrheiten in Westminister ist, erschwert ein zweiter Aspekt jegliche Vorausschau darauf, ob die Briten nun am 12. April per hartem Brexit, am 22. Mai per geregeltem oder gar noch später, nach einem längeren Aufschub, austreten. Eine lange Übergangsphase hat in der EU viele Gegner, und ihre Stimmen werden eher lauter als leiser. Man will die offenkundig mit sich selbst überforderten Briten keinesfalls im nächsten Europaparlament haben oder ihnen gar einen EU-Kommissar zugestehen, auf den sie Anspruch hätten, solange sie EU-Mitglied bleiben. Zudem stehen für die EU zahlreiche strategische Grundsatzfragen an, vom Verhältnis zu den USA, Russland und China bis hin zur Reform und Vertiefung der Wirtschafts- und Währungspolitik. Bei all diesen Themen waren die Briten bisher entweder dezidiert gegen eine stärkere weltpolitische Emanzipation der Union – vor allem in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik –, oder sie waren nur Zuschauer, wie beim Euro.
Außenministerin Karin Kneissl äußerte stellvertretend für viele am Donnerstag Zweifel, dass die EU einer Verschiebung des Brexit über den EU-Wahltermin hinaus zustimmen werde. Es sei „schwer vorstellbar“, wie eine „Verlängerung über die EU-Wahlen hinaus machbar ist“, sagte sie zur BBC.
Tusk: Flexible Frist von zwölf Monaten
EU-Ratspräsident Donald Tusk scheint zu den wenigen zu gehören, die den Briten noch mehr Zeit geben zu wollen. Er schlug einem Medienbericht zufolge nun eine flexible Verlängerung der Brexit-Frist auf zwölf Monate vor. Innerhalb dieses Zeitraums solle Großbritannien geordnet aus der EU aussteigen, sobald ein Brexit-Abkommen in London ratifiziert worden sei, berichtete der britische Sender BBC unter Berufung auf einen ranghohen EU-Diplomaten.
Unter Druck von fast allen Seiten begann die Position der britischen Regierung gestern, öffentlich auseinanderzufallen. Zum einen hatte das Parlament in der Nacht auf Donnerstag mit 313:312 einem Gesetzesantrag zugestimmt, der die Regierung verpflichtet, durch eine Verlängerung des Verfahrens einen harten Brexit zu vermeiden. Premierministerin Theresa May will nur eine Ausweitung bis 22. Mai. Nach einem Bericht der Tageszeitung „The Sun“ wollen bei einer längeren Verschiebung der Frist, die auch eine Teilnahme an den Europawahlen erforderlich machen würde, 15 Regierungsmitglieder aus Protest zurücktreten. Eine Annahme des Gesetzes durch das Oberhaus wurde dennoch erwartet.
Zentrale Labour-Forderung
Zum anderen schien eine bisher zentrale Position der Regierung ins Wanken zu geraten. Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox erklärte, ein Verbleib in der EU-Zollunion sei „nicht wünschenswert“, aber zur Umsetzung des Brexit unausweichlich: „Wir müssen eine gemeinsame Haltung finden.“ Die Gespräche dazu mit der Labour Party wurden gestern fortgesetzt. Die Zollunion ist eine zentrale Forderung der Opposition.
Zudem konzedierte mit Schatzkanzler Philip Hammond erstmals ein führendes Regierungsmitglied, dass eine weitere EU-Volksabstimmung ein „absolut glaubwürdiger Vorschlag“ sei. Vonseiten Labours forderte die außenpolitische Sprecherin Emily Thornberry, dass eine allfällige Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition vom Volk abgesegnet werden müsse. „Nur so können wir die Spaltung überwinden.“
In einem derartigen Referendum sollte auch die Möglichkeit eines EU-Verbleibs zur Wahl stehen. Labour-Verhandlungsführer Keir Starmer bestätigte „interne Diskussionen über verschiedene Lösungswege“. Für die Regierung widersprach Gesundheitsminister Matt Hancock seinem Schatzkanzler: „Wir lehnen ein neues Referendum strikt ab.“ Indes tickt die Zeit.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2019)