Die EU stellt London einen langen Aufschub des Brexit in Aussicht

APA/AFP/KENZO TRIBOUILLARD
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Einen „harten“ Brexit am Freitag will am Krisengipfel keiner der EU-Chefs – mehr Druck auf London sehr wohl. Österreich befand sich bei den Beratungen in der Minderheit.

Brüssel. Berichte über erste Risse in der Front der EU sind verfrüht, denn in drei wesentlichen Fragen des Brexit sind sich die 27 Regierungen einig, wie Diplomaten mehrerer Mitgliedstaaten am Mittwoch betonten: Erstens soll es keinen abrupten „harten“ Brexit ohne Nachfolgeabkommen geben. Zweitens soll die britische Premierministerin Theresa May noch einmal einen Aufschub bekommen, um eine Einigung mit ihrer Opposition über dieses Abkommen zu finden. Drittens müsse ausgeschlossen werden, dass das Vereinigte Königreich während dieser unfreiwillig verlängerten Mitgliedschaft in der Union deren Politik und Beschlüsse beeinflusst: von der Ernennung der nächsten Spitzenfunktionäre der Institutionen über den Beschluss des Haushaltsrahmens 2021–2027 bis zur Einstimmigkeit erfordernden Sanktionenpolitik.

Einigkeit herrschte vor Beginn des Brexit-Krisengipfeltreffens in Brüssel am Mittwochabend auch darin, dass die Union zwecks Erreichung dieser drei Ziele den Druck auf das britische Parlament in Westminster stark erhöhen müsse. Doch wie? Hier gingen die Meinungen bei der abschließenden Sitzung der EU-Botschafter der Mitgliedstaaten am Dienstagabend auseinander.

Warum Macron keinen de Gaulle macht

Die überwiegende Mehrzahl von ihnen teilte die Ansicht von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, wonach ein längerer Aufschub von bis zu einem Jahr einem kurzen bis zum Beginn der Europawahlen (also bis zum 23. Mai) vorzuziehen wäre. „Eine Möglichkeit wäre ein flexibler Aufschub, der nur so lang dauern würde wie nötig, und nicht länger als ein Jahr, denn danach müssen wir einstimmig einige europäische Schlüsselprojekte beschließen“, schrieb Tusk in seinem Einladungsbrief an die Staats- und Regierungschefs. „Die Flexibilität würde es erlauben, den Aufschub automatisch zu beenden, sobald beide Seiten das Austrittsabkommen ratifiziert haben. Das Vereinigte Königreich könnte frei entscheiden, wann es austreten will. Und die 27 würden sich wiederholte Brexit-Gipfeltreffen ersparen.“ Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, sieht das genauso: „Wir sollten Großbritannien ein vernünftiges Maß an Zeit geben“, sagte sie vor dem Gipfeltreffen. „Ich trete dafür ein, dass es durchaus eine Verlängerung über mehrere Monate, aber mit der Option des sofortigen Ausscheidens Großbritanniens gibt.“

In der Minderheit befand sich bei diesen Beratungen Österreich. Es sprach sich für einen möglichst kurzen Aufschub aus, fand dafür aber höchstens eine Handvoll an Unterstützern. „Wir verstehen die Überlegung der Österreicher nicht“, rätselte einer der befragten Diplomaten. Es dränge sich die Vermutung auf, dass es mit den Mehrheitsverhältnissen im Europaparlament zu tun habe. Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) und enger Verbündeter von Bundeskanzler Sebastian Kurz (dieser lud ihn heuer zum Neujahrskonzert in den Musikverein), ist gegen die Teilnahme der Briten an der Europawahl, weil diesfalls die Sozialdemokraten viele Labour-Abgeordnete, seine EVP hingegen keine Mandatare erringen würde. Das würde seine Chancen, Kommissionspräsident zu werden, weiter verringern.

Die befragten Diplomaten wiesen auch Vermutungen zurück, wonach Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Veto gegen den Aufschub einlegen werde. Oft wurde der Vergleich mit seinem Vorgänger Charles de Gaulle gezogen, der 1967 den Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft blockiert hatte.

Doch Macron werde keinen de Gaulle machen: Erstens funktioniere der Europäische Rat nach dem Konsensprinzip; nach innen wird gestritten, nach außen jedoch treten die Chefs stets geeint vor die Öffentlichkeit. Zweitens sei auch Macron im Europawahlkampf; Kante gegenüber den Briten zu zeigen sei populär – ein Veto samt „hartem Brexit“ am Freitag wäre jedoch angesichts der fragilen wirtschaftlichen Lage in Europa zu riskant.

Auf einen Blick

Brexit means Brexit: So einfach, wie Premierministerin May den Austritt ihres Landes aus der EU darzustellen pflegt, ist die Sache offenkundig nicht. Die Chefs der 27 Mitgliedstaaten hörten sich am Mittwochabend in Brüssel Mays Vorbringen und Bitte um einen Aufschub des Brexit-Datums an. Vorab war bereits klar, dass die 27 einer erneuten Verzögerung des Brexit zustimmen würden – doch nur gegen das klare Versprechen Mays, dass sich die Briten bis zum Austritt nicht mehr in die Belange der EU einmischen würden. Doch wie lang der Aufschub dauern soll und wie man dieses britische Versprechen garantiert, war vorab offen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2019)

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