Zwei Wochen vor der EU-Wahl verschärfen sich inhaltliche und personelle Konflikte gewaltig – nicht nur zwischen Mitgliedstaaten, sondern auch innerhalb der österreichischen Bundesregierung.
Sibiu. Zwei Wochen vor der Wahl des neuen Europaparlaments verschärfen sich inhaltliche und personelle Konflikte gewaltig – nicht nur zwischen mehreren Mitgliedstaaten, sondern auch innerhalb der österreichischen Bundesregierung. Denn Außenministerin Karin Kneissl ist strikt gegen den Vorschlag von Bundeskanzler Sebastian Kurz, das Vetorecht jedes EU-Mitgliedstaates in außenpolitischen Fragen abzuschaffen.
„Die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips in der gemeinsamen europäischen Außenpolitik wäre ein schwerer Fehler“, teilte Kneissl nach Ende des informellen Europäischen Rates im rumänischen Sibiu/Hermannstadt mit. „Die kleineren europäischen Länder wie Österreich würden dabei in ihren Interessen zu kurz kommen.“ Die von der FPÖ in die Regierung nominierte, wenn auch parteilose Ministerin kritisierte, dass die Einführung von außenpolitischen Mehrheitsbeschlüssen der EU „Österreichs reale diplomatische Möglichkeiten“ beschränken würde. „Die Fortführung einer aktiven österreichischen Neutralitätspolitik wäre nicht mehr im vollen Umfang möglich“, warnte sie. Es drohte ein „Direktorat der Großen“. Kurz hatte noch Donnerstagfrüh gegenüber dem Radiosender Ö1 gesagt, die Abschaffung des Vetorechts in der Außenpolitik sei „definitiv etwas, das ich mir gut vorstellen kann“.
Kurz drängt, wie berichtet, auf eine Änderung der EU-Verträge, die er als nicht mehr zeitgemäß empfindet. Dieser Plan erweckte bei den anderen Staats- und Regierungschefs allerdings wenig Interesse: „Kurz hat das vorgetragen“, war die knappe Aussage eines europäischen Diplomaten gegenüber der „Presse“. Sprich: Es gab keine Diskussion darüber.
Webers Chancen schwinden
Denn die EU-Chefs haben unmittelbar wichtigere Fragen zu klären: nämlich jene, wer nach der Europawahl am 26. Mai die Führungsrollen in den Institutionen der Union einnehmen soll. Wie von der „Presse“ berichtet, wird es schon am 28. Mai in Brüssel ein Sondertreffen der 28 Staats- und Regierungschefs geben, um in diesen Personalfragen Grundsätzliches zu klären. Das bestätigte Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates. Und er drückt aufs Tempo. Schon beim nächsten formellen Europäischen Rat am 20. und 21. Juni in Brüssel will er die Chefs über das Personalpaket abstimmen lassen: „Natürlich wäre es am besten, wenn wir über all diese Entscheidungen Konsens erzielen könnten. Aber wir müssen realistisch sein. Ich werde mich nicht davor scheuen, diese Entscheidungen zur Abstimmung zu bringen, wenn der Konsens sich als schwer zu finden zeigt.“
Das bedeutet, wie ein hoher EU-Funktionär im Gespräch mit der „Presse“ sagte, im Klartext: Manfred Weber, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) und hoffnungsfroher Anwärter auf das Amt des Kommissionspräsidenten, wird nach Verkündigung des Wahlergebnisses keine 48 Stunden Zeit haben, um eine tragfähige Mehrheit im neuen Europaparlament zusammenzustellen. Misslingt ihm dies, werden die Staats- und Regierungschefs ihm bei ihrem informellen Gipfel mitteilen, dass sein Traum geplatzt ist. Diese Koalition wird für Weber sehr schwer zu versammeln sein. Denn anders als Jean-Claude Juncker, der scheidende Präsident, hat Weber in seiner Zeit als EVP-Fraktionsführer scharf gegen die Sozialdemokraten geschossen – deren Stimmen er aber benötigen wird.
Darüber hinaus sind mehrere maßgebliche EU-Chefs, allen voran Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, entschieden gegen den Spitzenkandidatenprozess. „Ich habe viel Respekt für Herrn Weber – aber ich fühle mich nicht an einen Prozess gebunden, den die großen Parteien für sich selber geschaffen haben“, sagte Macron in Sibiu.
Der stille Kandidat Barnier
Doch wenn nicht Weber: wer dann? Immer mehr verdichten sich die Gerüchte, Michel Barnier, der Brexit-Chefverhandler der EU, könnte als Kompromisskandidat zum Zug kommen. Er ist bei allen Parteien wohlgelitten, seine Arbeit wird hoch geschätzt, und als EVP-Politiker und Franzose wäre er sowohl für die Christlichsozialen wie für Macron annehmbar. In Sibiu wurden jedoch auch neue Namen lanciert: jener der früheren bulgarischen Kommissarin und jetzigen Weltbankvizepräsidentin Kristalina Georgiewa etwa. Sie wird allseits alshoch kompetent geschätzt – und würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie stammt aus Osteuropa – und ist eine Frau.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2019)