Das Ausscheiden der Briten aus der Union böte Rom die Möglichkeit, ein machtpolitisches Vakuum zu füllen. Doch das europäische Gründungsmitglied übt sich stattdessen in Selbstverzwergung.
Brüssel. Wenn sich politischer Einfluss in den Personen manifestiert, die an der Spitze politischer Einrichtungen stehen, war Italien in den vergangenen fünf Jahren in Europa so mächtig wie kaum zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Präsident der Europäischen Zentralbank: ein Italiener. Der Vorsitzendes des Europaparlaments: ein Italiener. Die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik: eine Italienerin.
Doch mit dem Ende der Amtszeiten von Mario Draghi, Antonio Tajani und Federica Mogherini an der Spitze dieser drei Institutionen tritt deutlich zutage, wie wenig es die häufig wechselnden Regierungen in Rom verstanden haben, aus diesen wichtigen Schlüsselpositionen politisches Kapital zu schlagen. Italien, welches mit Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg vor sieben Jahrzehnten das europäische Einigungswerk begann, welches in die heutige EU mündete, konnte keine einzige substanzielle politische Initiative auf europäischer Ebene lancieren.
Salvini und Di Maio im Clinch mit Paris
Das liegt nicht nur daran, dass seit vorigem Jahr eine (nun zerfallende) europaskeptische bis europafeindliche Koalition in Rom regiert: Der damalige linksliberale Ministerpräsident, Matteo Renzi, der rasch verglühte Superstar der europäischen Sozialdemokratie, traf mit seiner Auswahl der farblosen und wenig durchsetzungskräftigen Parteigenossin Mogherini eine Personalentscheidung, die ihm jegliche machtpolitische Hebelwirkung in Brüssel von Anfang an unmöglich machte. Mogherini reist mit Eifer und nicht ohne Selbstdarstellungsdrang durch die Weltgeschichte, auch in Regionen, wo sie sich klugerweise von Außenministern mit traditioneller Nähe wirkungsvoller vertreten lassen könnte. Bei den wöchentlichen Sitzungen der Kommission, der sie als Vizepräsidentin angehört, fehlt sie oft.
Die beiden sich nun entzweienden Vizeregierungschefs, Matteo Salvini und Luigi Di Maio, sind nur in einer Frage geeint: ihrer Aversion gegen Frankreich und dessen Präsidenten, Emmanuel Macron. Salvini ging neulich gar so weit, dem früheren italienischen Europastaatssekretär Sandro Gozi, der auf Macrons Liste ins Europaparlament gewählt wurde, des „Verrats“ zu bezichtigen und ihm den Entzug der Staatsbürgerschaft anzudrohen. Di Maio wiederum empfing eine Delegation der Gelbwesten-Demonstanten, die Macrons Sturz fordern.
Statt strategisch zu denken und beispielsweise mit Frankreich und Spanien einen Gegenentwurf zur deutschen Austeritätspolitik zu gestalten, schottet sich Italiens politische Klasse ab. Und während Spaniens sozialistischer Ministerpräsident, Pedro Sánchez, angesichts des Brexit versucht, eine größere Rolle in der EU zu spielen, ist nun sogar offen, ob Salvini und Di Maio es überhaupt schaffen, einen Kandidaten für die neue EU-Kommission zu nominieren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2019)