Versorgungsengpässe, Chaos an der Grenze, Unruhen: Die britische Regierung musste geheime Planungsdokumente veröffentlichen und spielt deren Dramatik nun herunter.
London. Eines der heikelsten Geheimnisse zum britischen EU-Austritt ist nun öffentlich zugänglich: Die Regierung in London musste auf Anordnung des Parlaments vertrauliche Planungsdokumente vorlegen, die schonungslos die negativen Folgen eines No-Deal-Brexit darlegen: Demnach wird es zu Versorgungsengpässen mit Lebensmitteln und Medikamenten kommen, wird der Lkw-Verkehr über den Ärmelkanal für Monate beeinträchtigt sein und werden sogar Proteste und Unruhen nicht ausgeschlossen, die eine „erhebliche Menge“ an Polizeikräften in Anspruch nehmen könnten.
Während der zuständige Minister, Michael Gove, das Papier herunterspielte, sagte gestern, Donnerstag, der Labour-Abgeordnete Hillary Benn: „Es ist außerordentlich, dass wir es hier mit Bedrohungen zu tun haben, die ein direktes Resultat der Regierungspolitik sein könnten.“
Die interne Lagebeurteilung zeigt, dass Großbritannien weiter nicht auf das Ausscheiden aus der EU vorbereitet ist. Ein Großteil der britischen Spediteure, die derzeit zwischen der Insel und dem Kontinent unterwegs sind, seien „für das Inkrafttreten eines neuen Zollregimes auf französischer Seite“ des Ärmelkanals nicht bereit. In Folge würde der Grenzverkehr am Tag eins nach dem Brexit um bis zu 60 Prozent einbrechen, „da unvorbereitete Lkw die Häfen verstellen und den Verkehr blockieren“ werden. Zwei Millionen Lastwagen passieren bisher im Jahr die Strecke Dover–Calais.
Ein solcher Stillstand wird zu Versorgungsengpässen bei Lebensmitteln und zu Preiserhöhungen führen. Eine Hungersnot droht wohl nicht, aber: „Die Verfügbarkeit und das Angebot für bestimmte Produkte werden sinken, während die Preise steigen.“ Die Engpässe würden „die ärmere Bevölkerung disproportional härter treffen“. Besonders Frischware vom Kontinent könnte knapp werden, hatte zuvor schon der Lebensmittelhandel gewarnt.
Die Planungsannahme der Regierung geht von „Verwerfungen bis zu sechs Monaten“ aus. Besonders betroffen könnte die medizinische Versorgung sein – ausgerechnet zu Beginn der kalten Jahreszeit. Großbritannien importiert zwei Drittel seiner medizinischen Einfuhren aus der EU. Die Regierung forderte Pharmafirmen auf, Vorräte für sechs Wochen anzulegen. Dennoch erklärten 17 medizinische Institutionen im August in einem offenen Brief: „Wir sind nicht in der Lage, der Bevölkerung zu versichern, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.“
Sie reagierten damit auf erste Enthüllungen aus dem nun zur Gänze veröffentlichten Dokument. In einer ersten Reaktion hatte die Regierung erklärt, das Papier stamme von der Vorgänger-Administration. Das war unwahr. Die „Operation Yellowhammer“ wurde zehn Tage nach dem Amtsantritt des jetzigen Premierministers, Boris Johnson, ausgerufen. Da man die Verantwortung nicht länger leugnen kann, erklärt man das Papier für hinfällig: „Wir haben bedeutende Fortschritte gemacht“, sagte Gove. Verteidigungsminister Ben Wallace wurde mit der Nachricht ausgeschickt: „Der Schatzkanzler hat den Geldhahn aufgedreht.“
Frankreich ist besorgt
Damit wird auch eine mit 100 Mio. Pfund dotierte Propagandaoffensive mit dem Slogan „Get ready“ finanziert. Dort, wo es zählt, scheint die Nachricht aber noch nicht angekommen zu sein: Nach einer Übung im Hafen Ouistreham in der Normandie erklärte am Mittwoch der französische Handelsminister, Gérald Darmanin: „Wir sind ein wenig besorgt über den Stand der britischen Vorbereitungen.“
Frankreich hat in den vergangenen Monaten Hunderte neue Grenzpolizisten aufgenommen, die Niederlande haben ihren Zolldienst aufgestockt, und Irland hat im Hafen von Dublin einen neuen Abfertigungsterminal gebaut. Auf britischer Seite ist nichts geschehen. Im Notfall soll die Autobahn von Dover nach London zu einem gigantischen Lkw-Abstellplatz werden.
Das Planungsdokument, das laut Insidern keinesfalls – wie von der Regierung behauptet – den Worst Case beschreibt, wurde erst auf Anordnung des Parlaments veröffentlicht. Weitere Unterlagen, wie jene zum Antrag auf Zwangsbeurlaubung der Abgeordneten, werden weiterhin geheim gehalten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2019)