Argentinien: Eine Mutter gegen die Mafia

Die Presse (Fabry)
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Susana Trimarco begab sich auf die Suche nach ihrer entführten Tochter, deckte dabei ein unglaubliches System des Menschenhandels auf und wurde für den Friedensnobelpreis nominiert.

Was, wenn der Mann recht hat? Wenn der Weg auf der der Skizze, die er auf diesen Zettel kritzelte, wirklich zu Marita führt? Was soll eine Mutter hoffen, die zehn Jahre lang vergeblich nach ihrer verschleppten Tochter sucht: Dass deren Überreste gefunden werden, damit endlich Schluss sei mit der alles verzehrenden Ungewissheit? Oder wünscht sie, dass dieser Hinweis ebenso ins Nichts führe wie so viele zuvor? Damit zumindest die Hoffnung weiterlebt.

Der Mann hatte nicht recht. Zwei Wochen, nachdem der vermeintliche Zeuge an Susana Trimarcos Haustür geklingelt hatte, gruben Ermittler das von ihm benannte Grundstück um. Sie fanden Teile gestohlener Autos. Aber keine menschlichen Überreste. Marita bleibt verschwunden.

María de los Ángeles Verón, so heißt sie, wird am 3. April 2002 aus der Welt gerissen, verkauft, versklavt. Kurz nach neun Uhr morgens verlässt sie ihr Elternhaus in San Miguel de Tucumán, Argentiniens fünftgrößter Stadt am Fuße der Anden (s. Karte). Sie will sich in der öffentlichen Frauenklinik eine Spirale einsetzen lassen. Die lebensfrohe junge Frau, die alle Marita nennen, ist 23, hat gerade einen kleinen Laden eröffnet, sie will nicht zum zweiten Mal schwanger werden. Die Klinik hatte ihr eine Krankenschwester aus der Nachbarschaft empfohlen. Es war eine Falle.

Der Beginn eines Kreuzzugs. Beim Mittagessen bleibt Maritas Stuhl leer. Nach dem Essen setzen sich die Eltern ins Auto und beginnen in dem Spital jene Suche, die bis heute jeden Tag, jede Stunde ihres Daseins bestimmt. Die Maritas Vater 2010 ins Grab brachte. Die Maritas Tochter Micaela eine Kindheit unter Polizeischutz eintrug und die ständige Konfrontation mit Dingen, die schon für viele Erwachsene kaum zu verarbeiten sind.

„Menschenraub? Wir hatten keine Ahnung, dass es so etwas gibt“, erinnert sich Susana Trimarco, die mit ihren langen dunklen Haaren, ihren weiblichen Formen und ihrer direkten Ansprache auf den ersten Blick immer noch wirkt wie jene Hausfrau und Mutter aus der nördlichen Provinz, die sie war bis zu jenem vermaledeiten Südhalbkugel-Spätsommertag vor zehn Jahren. Heute ist die 58-Jährige Argentiniens bestinformierte Expertin über das Thema Zwangprostitution, die Polizisten unterweist und vor dem Obersten Gerichtshof doziert.


Telenovela der Trauer. Ihre Geschichte wurde zur Vorlage einer Telenovela. 2007 bekam Susana Trimarco eine Auszeichnung von der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice, die Universität Buenos Aires verlieh ihr vorigen Juli einen Ehrendoktor, Argentiniens Anwaltsvereinigung schlug ihren Namen gar für den Friedensnobelpreis 2013 vor. Sie selbst sagt: „Ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, dass ausgerechnet ich gegen eine ganze Mafia kämpfen würde.“ Eine ganze Mafia. Aus Taxifahrern, Drogenkurieren, Zuhältern. Aber auch aus Krankenschwestern, Ärzten, Polizisten, Staatsanwälten, Richtern. Mit Verbindungen bis in die Regierungspaläste der Provinzen Tucumán und La Rioja.

Es ist ein anonymer Anrufer, der am Tag nach Maritas Verschwinden die schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Nur einen Straßenblock von ihrem Elternhaus entfernt habe ein roter Fiat angehalten, just, als Marita die Straße querte. Zwei Männer seien herausgesprungen und hätten die junge Frau auf die Rückbank gezogen, ehe der Wagen davonbrauste.

Außer sich vor Entsetzen greift sich Susana Trimarco ihre kleine Enkelin und fährt in die Stadtmitte, zu dem Zuckerbäckerpalast an der Plaza Independencia, wo der Gouverneur von Tucumán regiert. Niemand will sie dort sprechen. Bei der Polizei erntet sie kaum mehr Interesse, als hätte sie einen Fahrraddiebstahl anzuzeigen.

800 Euro für „weiße Ware“. Die Behörden tun nichts, aber die Eltern versuchen alles ihnen Mögliche. Tausendfach lassen sie Maritas Foto auf Plakate und Flugblätter drucken und verteilen diese in der ganzen Stadt, auch in den düsteren Gassen am Stadtpark, wo nachts die Prostituierten stehen. Eine der Damen dort weiß von Marita. Sie sagt dem Vater, dass die Verschleppte nach La Rioja verkauft worden sei, in eines der Bordelle an der Bundesstraße 38, für umgerechnet 800 Euro, das war damals der Preis für „Ware“ der obersten Kategorie: minderjährige und hellhäutige Mädchen aus gutem Hause.

Wäre Daniel Verón damals sofort aufgebrochen, hätte er seine Tochter genau dort gefunden, das ergaben später Zeugenaussagen. Doch bevor er anderntags starten konnte, meldeten Polizisten, Marita sei im Norden der Provinz Tucumán gesehen worden. Es war die erste falsche Fährte der Sicherheitsleute, andere folgten. „Von 100 Polizisten sind höchstens 30 ehrliche Menschen“, sagt Susana Trimarco heute.

Sie beginnt, selbst zu ermitteln. Geschminkt und mit Perücke stellt sie sich zu den Prostituierten und Transvestiten an die Bundesstraße 38, in die Nähe jener Puffs, in denen Marita gefangen gehalten wurde. Sie ergattert das Adressbuch eines korrupten Polizisten und fängt an, die Nummern der Bordellbosse anzurufen. Sie gibt sich als Puffchefin auf „Talentsuche“ aus und lässt sich versklavte junge Frauen vorführen. So gewinnt sie Details über Strukturen und Verantwortliche des Menschenhandels, die sie an einen der wenigen ehrlichen Polizisten weitergeben kann. Dieser – er ist ein Jugendfreund von Maritas Vater – hat als Leiter der Mordkommission genug Einfluss, um Durchsuchungsbefehle zu erwirken.

Der Freund empfiehlt Susana, den Kontakt zu den Medien zu suchen, was diese auch mit Ingrimm befolgt. In Radio und TV beginnt sie den Menschen in Tucumán von Marita zu erzählen, über die Menschenfänger und deren Mittäter in Polizei und Justiz. Und sie nennt Namen. Das geht so weit, dass Rubén Ale, ein Drei-Zentner-Mann mit Beinamen „die Sau“, Maritas Vater einbestellt: „Bring deine durchgeknallte Alte zum Schweigen“, befiehlt der Koloss, von dem alle Welt weiß, dass er das Glücksspiel kontrolliert, den Drogen- und Menschenhandel.

Attentate überlebt. Weil Susana aber genau das weiterhin öffentlich ausspricht, wird sie zweimal fast überfahren, beiden Attentaten entkommt sie unverletzt. Der Schuppen im Garten, in den sie Maritas Sachen ausgelagert hat, geht 2007 in Flammen auf. Und bis heute bekommt sie ständig SMS wie dieses: „Achte auf deine Enkelin!“

Maritas Mutter wird zur öffentlichen Figur mit Polizeischutz rund um die Uhr. Mit Interviews und Aufmärschen bringt sie das Thema Menschenhandel auf die politische Agenda des Landes. Seit Jahrhunderten wurden Frauen unter falschen Versprechen nach Argentinien gebracht und dort sexuell ausgebeutet. Doch erst seit Trimarcos Rebellion hat das südamerikanische Land ein Gesetz bekommen, das Menschenhandel als Delikt definiert und mit Höchststrafen von 15 Jahren belegt. Seitdem es in Kraft ist, konnten knapp 3000 Menschen aus ihrer Sklaverei befreit werden.

Mehr als 900 junge Frauen verdanken ihr Entkommen Susana Trimarco. Sie nutzte die Publicity nach der Ehrung in Washington anno 2007 zur Gründung der „Fundación María de los Ángeles“. Das grüne Gebäude der Stiftung im Zentrum von Tucumán ist seither die Anlaufstelle für viele Eltern, die verschwundene Kinder suchen. Zehn Anwälte, Psychologen und Sozialarbeiter helfen den geretteten Opfern (viele davon sind noch minderjährig) bei der Rückkehr in ihr Leben.

Ihr „zweites Mutterleben“, wie Susana Trimarco es nennt, beginnt bei einer der ersten ihrer gesamt 175 Razzien in den Puffs von La Rioja. Sie sieht etwa 60 kaum bekleidete junge Frauen in dem Saal, die alle verschämt zu Boden blicken. Spontan ruft sie: „Ist jemand gegen seinen Willen hier?“ Eine junge Frau stürzt auf sie zu, klammert sich an sie: „Bitte nehmt mich mit und übergebt mich nicht den Polizisten, die bringen mich sofort hierher zurück.“

Eine „neue Tochter“. Maritas Eltern überlegen nicht lang. Schon auf der Heimreise erfährt Susana: Die junge Frau kennt Marita. Sie kann deren Turnschuhe beschreiben, die Narbe von der Geburt ihrer Tochter Micaela, und sie weiß auch den Namen des Kindes. Sie erzählt, dass Marita ein paar Stunden vor der Razzia aus dem Bordell geholt worden sei – von einem leitenden Polizisten namens Rosas.

Monatelang bleibt das Mädchen, das sich Anahí nennt, im Hause von Susana, die ihr all jene Mutterliebe und Zuwendung schenkt, mit der sie ihre eigene Tochter und ihre Enkelin aufgezogen hat. Sie lässt das Mädchen in ihrem Zimmer schlafen und schaltet nachts das Licht nicht aus. Nach und nach beginnt Anahí zu erzählen, nach und nach eröffnet sich der Mutter jener apokalyptische Abgrund, der ihre Tochter so jäh verschluckte.

Sexspielzeuge der Mächtigen. Susana erfährt von den Beruhigungsspritzen, den Kokainkicks, den durchweinten Kopfkissen. Den Prügeln, Tritten, Messerstichen. Und Abtreibungen, weil viele Freier Kondome verweigern. Susana hört von den wöchentlichen Besuchen der Polizisten, die ihr Schmiergeld abholen, und von den „Castings“, auf denen sich die Mächtigen der Provinz ihre „Spielzeuge“ für Privatpartys aussuchen. Auch der Richter, der die Durchsuchungen anordnen sollte (und alles tat, um die Maßnahmen zu verschleppen), war Gast solcher Soireen. Das bekam Susana Trimarco von einer anderen Geretteten bestätigt, die dem Beamten zu Willen sein musste.

Es sind die Zeugnisse der Entkommenen, aus denen die Eltern ein Bild gewinnen über die Qualen ihrer Tochter. Eine Aussage beschreibt Marita kurz nach der Ankunft im Puff „Candy“, präsentiert in schwarzer Unterwäsche, das Haar blond gefärbt, blaue Haftschalen in den Augen. Etwa drei Monate nach der Entführung erkennt ein in Tucumán gefangenes Mädchen Marita wieder, ihr Bild prangte damals auf Flugblättern und Fahndungsfotos in der Stadt. Doch das strahlende Lächeln ist zerronnen. Teilnahmslos wirkt Marita und unfähig zu sprechen. Offenbar brachten die Entführer sie zwischenzeitlich in ihre Heimatstadt zurück und stellten sie dort mit Drogen ruhig, ehe sie wieder in die Bordelle von La Rioja zurückverfrachtet wurde.

Ein Baby vom Zuhälter. Dort wird Marita ein Jahr nach der Entführung gesehen – mit einem Baby auf dem Arm. Ihre Peiniger halten sie auf Distanz zu den anderen Mädchen und unterbinden Gespräche. In einem unbeobachteten Moment kann sie einer Mitgefangenen berichten, das Kind sei Ausgeburt einer Vergewaltigung durch ihren Zuhälter José „Chenga“ Gómez. „Mach bloß, was dir befohlen wird“, habe Marita der eben erst angelieferten 15-Jährigen geraten und dabei eine Narbe am Rücken freigelegt, offenbar von einem Messerstich. „Diese Typen verstehen keinen Spaß!“, warnte Marita.

Ihre Spur verliert sich im November 2003. Eine Leidensgenossin hörte da die Puffbesitzerin Irma Medina über die rastlose Mutter lästern: „Die kann hier noch ewig suchen, ihre Tochter ist längst in Spanien.“ Die folgenden Ermittlungen auf der iberischen Halbinsel belegten eine Verbindung nach La Rioja, 18 südamerikanische Zwangsprostituierte konnten befreit werden – aber Marita Verón war nicht darunter.

Die Justiz in Tucumán schloss bald die unangenehmen Ermittlungen und vergrub den Fall in den Schubladen. Allein dem Ingrimm von Maritas „Mutter Courage“, die bis in den Kongress, den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof in Buenos Aires zog, ist es geschuldet, dass kommende Woche die ersten Urteile verkündet werden – zehn Jahre und acht Monate nach jenem vermaledeiten Spätsommertag.

Seit Februar saßen sie in dem renovierten Saal des Justizpalastes von Tucumán: 13 Männer und Frauen – Taxifahrer, Prostituierte, Polizisten. Und jene Familie, in deren drei Puffs Marita Verón gesehen wurde, ein Lokal betrieb die Mutter, Irma Medina, die beiden anderen ihre Zwillingssöhne „Chenga“ und „Gonzalito“ Gómez. Keiner der Angeklagten hat eine Mitschuld eingestanden, auch wenn mehrere ehemalige Opfer im Gerichtssaal ihre belastenden Aussagen aus den Vernehmungen 2003 wiederholten.

Die anonymen Stimmen bleiben.
Das Strafmaß kann indes höchstens zehn Jahre betragen, denn der Menschenhandelsparagraf, den Susana Trimarcos Rebellion in Argentiniens Strafgesetzbuch gebracht hatte, galt zum Tatzeitpunkt noch nicht. Susana weiß das. Sie muss mit der Enttäuschung leben, dass dieser Prozess ihre Suche nach Marita nicht weiterbrachte. Sie muss damit rechnen, dass die anonymen Anrufe nicht aufhören. Dass man ihr immer wieder falsche Fundorte nennt, nur um ihr in der Seele wehzutun.

Immer wieder, auch vor Gericht, hat sie wiederholt, dass sie daran glaube, ihre Tochter noch lebend zu finden. Sie sagt: „Niemals werde ich meine Tochter aufgeben. Wenn mich diese Leute keine Ruhe finden lassen, dann sollen auch sie keine Ruhe finden!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2012)

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