Griechenland: Kinder als Opfer der Sparpakete

Griechenland Kinder Opfer Sparpakete
Griechenland Kinder Opfer Sparpakete(c) REUTERS (ICON)
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In Griechenland nehmen Unterernährung und familiäre Gewalt zu, weil immer mehr verarmen und der Staat Kinder kaum noch betreuen kann. Auch der Mittelstand sackt bereits ab.

Griechenland im dritten Jahr der Sparpakete: Immer mehr Familien versinken im Abstiegskampf gegen die Armut. Immer mehr Eltern wenden sich an öffentliche und private Sozialeinrichtungen um Hilfe für ihre Kinder, für die sie kaum noch sorgen können. Neue Heimplätze gibt es aber keine für die Kinder: Da ist kein Geld für die Steigerung der Kapazitäten, weder bei privaten noch öffentlichen Trägern.

„Das gewaltige soziale Betreuungsdefizit, das sich die letzten Jahre aufgetan hat, ist ein riesiges Problem für uns Sozialhelfer“, erklärt Stergios Sifnios, Direktor für Sozialarbeit bei Griechenlands SOS-Kinderdörfern. „Gerade in Krisenzeiten, wenn Familien verstärkt Hilfe brauchen, werden im öffentlichen Bereich Stellen abgebaut, Gehälter gekürzt. Auch private Organisationen bittet man im Zeichen des Sparens zur Kasse: Schenkungen und Stiftungen werden jetzt besteuert, Immobilien der Kinderdörfer etwa der Sonderimmobiliensteuer unterzogen. Für soziale Einrichtungen gibt's keine Ausnahmen.“ Also müssen auch die Kinderdörfer froh sein, wenn sie ihren Bestand wahren können; keine Rede ist von Vermehrung der Betreuungsplätze.

Hunger in einem europäischen Land. Jene 2500 „verlassenen Kinder“, die in Spitälern und Heimen geparkt würden, wie Agenturen meldeten, die gibt es also nicht: Für sie gäbe es ja keine Plätze. 2500 ist in Wahrheit die Zahl der Kinder bis 18 Jahre, die in Heimen betreut werden und das schon vor der Krise wurden. Meist sind es „Sozialwaisen“ aus gewalttätigen Familien, solchen mit Drogenhintergrund und anderen Problemen: etwa 1000 in öffentlichen Einrichtungen, 1500 in privaten.

Das Ergebnis des „Betreuungsdefizits“: unter anderem Hunger, wie Stergios Sifnios bestätigt. „Kürzlich kam ein Bub zu uns zu einem Einstufungstest. Er war seltsam apathisch und unkonzentriert, bis man ihm was zu essen gab. Er hatte keine psychologischen Probleme. Er war nur hungrig.“

Als der Kindervolksanwalt Anfang 2012 vor einem Parlamentsausschuss das Phänomen der Unterernährung an Schulen ansprach, stieß er auf Unglauben. Nun ist es bestätigt: Immer mehr Kinder kommen hungrig und verwahrlost in die Schule, weil ihre Eltern sich Essen nicht mehr leisten können oder in so schlechter Verfassung sind, dass sie sich nicht mehr um die Kinder kümmern können. Auch der Unterrichtsminister gestand das Problem ein. Das Landwirtschaftsministerium soll nun Milch und Brot organisieren.

Sporadisch veröffentlichte lokale Daten deuten an, wie groß das Problem ist: So kochten die Kindergartenküchen der Stadt Athen bereits im März täglich 253 Rationen extra für Kindergärtler und Taferlklassler, die zu Hause nichts bekommen. Anträge für weitere 117 Tagesrationen, darunter 30 für Querschnittgelähmte, wurden abgelehnt. Es gibt keine zusätzlichen Kapazitäten mehr in der Gemeindeküche.

Strom und Wasser gekappt. Also müssen Schuldirektoren in armen Bezirken mit herzzerreißenden Bittbriefen um die paar Zusatzrationen kämpfen: In einem heißt es etwa, man möge eine Ration für ein Kind in einer 1. Klasse Volksschule genehmigen, das an Unterernährung leide. „Sein Papa ist arbeitslos und wird wegen Epilepsie behandelt. Die Familie hat zwei weitere Kinder im Vorschulalter und lebt in einer Wohnung ohne Strom und Wasser.“ Im Griechenland der Sparpakete wird Haushalten, die Wasser und Strom nicht mehr zahlen können, die Leitung abgedreht. Allein im Oktober kappte die Stromgesellschaft 30.000 Anschlüsse, sie hat 1,1 Milliarden Euro an Ausständen, davon 600 Mio. von Privathaushalten; rund 300.000 Haushalte bekommen keinen Strom mehr.

Mit der Angst vor Stromabschaltung rechnete 2011 der damalige Finanzminister Evangelos Venizelos. Er wollte per Stromrechnung eine Sondersteuer einziehen, das hätte den Vorteil gehabt, dass säumigen Zahlern der Strom gesperrt würde. Es war aber klar, dass das verfassungswidrig war, doch wie auch in anderen Fällen vertraute die Regierung darauf, dass eine gerichtliche Entscheidung Jahre dauern würde. Doch das Verfassungsgericht verbot schon Anfang 2012 Abschaltungen für Steuersünder. Die 30.000 Sperren sind „nur“ in Stromschulden begründet.

Venizelos ist übrigens heute Chef der Sozialisten und einer der zwei Ex-Finanzminister, die die „Liste Lagarde“ verschwinden ließen: eine Aufstellung von 2000 griechischen Kontoinhabern und potenziellen Steuerflüchtigen in der Schweiz, die Athen 2010 von Frankreich erhalten hatte und über zwei Jahre in Ministeriumsschubladen lagerte.

Gewaltbereitschaft steigt. Da die Kinderdörfer voll sind, wurden in Städten Sozialzentren gegründet, die Kinder aus Problemfamilien betreuen. Für etwa 250 Kinder sorgen Kinderdörfer und Heime, für gut 750 die Sozialzentren. Zwei neue Zentren sind in Piräus und Patras geplant. „Aus immer mehr Landesteilen kommt Alarm. Reagieren können wir nur dank großer Stiftungen wie der Niarchos-Stiftung, die noch Geld geben“, sagt der Sozialarbeiter. „Die Familien, denen die Zentren helfen, sind meist Krisenopfer. Arbeitslosigkeit und Geldnot schmälern nicht nur die Ernährung: Sie schaffen große psychische Probleme, die Gewaltneigung steigt.“Laut Studien des „Instituts für die Gesundheit des Kindes“ habe die Hälfte der Kinder in der Familie mit Gewalt zu rechnen. Und Gewalt in der Schule, besonders in armen, ethnisch gemischten Vierteln, hat stark zugenommen.

Sifnios bereitet auch ein völlig neues Phänomen Sorgen: „Früher betreuten wir meist Kinder von Alleinerziehern oder aus kinderreichen Familien. Arbeitslosigkeit und oft auch Schulden haben aber nun auch die mittelständische Kleinfamilie mit zwei Elternteilen in die Knie gezwungen. Es gibt von daher immer mehr Anfragen.“

Hintergrund

An den Schulen in Griechenland wird Mangelernährung zusehends zum großen Problem: Als der nationale Kindervolksanwalt Anfang 2012 das Phänomen erstmals ansprach, glaubte ihm kaum ein Offizieller. Heute ist es offensichtlich: Tausende Kinder kommen hungrig und verwahrlost in die Schule, weil ihre Eltern sich Essen nicht mehr leisten können oder so schlecht verfasst sind, dass sie sich nicht mehr richtig um ihre Kinder kümmern können.

300.000 Haushalte
und mehr sind in Griechenland zudem ohne Strom und oft auch ohne Wasser, weil immer mehr Menschen die Rechnungen für Strom und Wasser nicht mehr zahlen können und die Leitungen von den Versorgern gekappt werden. Letztere rutschen folglich ihrerseits immer tiefer in die roten Zahlen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2012)

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