Extremismus: Der Kampf der Mütter gegen den Jihad

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Jugendliche, die als IS-Jihadisten nach Syrien ziehen, suchen nach einem Platz im Leben. Das Projekt der Mütterschulen hilft Eltern, erste Anzeichen von Radikalisierung zu erkennen - und dagegen anzugehen.

Wien. Saliha Ben Ali wusste, dass ihr Sohn eine schwierige Phase durchmachte. „Wir haben gedacht, dass er auf Identitätssuche ist und haben versucht, ihm dabei zu helfen, seinen Weg zu finden.“ Doch dieser Weg führte Sabri nach Syrien, um sich dort den Jihadisten anzuschließen. Als der Sohn aus einer Migrantenfamilie mit marokkanischen und tunesischen Wurzeln Europa den Rücken kehrte, war er 19 Jahre alt. Drei Monate später war er tot.

Die ganze Familie, sagt Ben Ali, sei von Sabris Entwicklung überrascht worden. Die vierfache Mutter aus dem belgischen Vilvoorde bei Brüssel ist in Europa aufgewachsen, arbeitet seit Langem als Sozialarbeiterin. „Wir haben keine Anzeichen einer Radikalisierung gesehen.“

Sabri veränderte sich. Dass er mit den Rattenfängern der Jihadisten in Kontakt stand, behielt er für sich. Zu Hause erzählte der junge Mann, er habe neue Freunde gefunden, neue „Brüder“. Er verließ die Schule, gab den Sport auf, brach den Kontakt zu seinen alten Freunden ab. Das alles geschah innerhalb weniger Monate. Dann war Sabri weg. In einem Brief, der Saliha Ben Ali wenige Tage später erreichte, bat er sie, nicht böse auf ihn zu sein. „Ich bin hier, um dem syrischen Volk zu helfen, denn niemand hilft ihnen“, schrieb er.

Isolation als Alarmzeichen

Wenn Saliha Ben Ali heute Geschichten von jungen Männern hört, die sich von ihren Familien abschotten, die Freunde wechseln, die Schule schmeißen, schellen bei ihr die Alarmglocken. Isolierung, sagte sie der „Presse“, sei das markanteste Zeichen einer möglichen Radikalisierung. Dieses Wissen will sie nun anderen Müttern vermitteln, damit sie auf die ersten Anzeichen reagieren können.

„Mütterschulen gegen Extremismus“ nennt sich das Projekt, das den Extremisten „an der Basis“ etwas entgegensetzen will, wie Edit Schlaffer sagt. Eben durch jene Menschen, die den Jugendlichen am nächsten stehen: ihre Familien. Die österreichische Sozialwissenschaftlerin und Gründerin der Organisation Frauen ohne Grenzen hat das Projekt 2012 ins Leben gerufen. Mütter lernen in speziellen Kursen, wie sie eine Radikalisierung früh erkennen und dagegen angehen können – sei es in Indonesien, Nigeria, Tadschikistan oder Belgien. In der umfochtenen Region Kaschmir soll es bald den ersten Kurs für Väter geben. In Wien wurden am Dienstag die ersten Absolventinnen der hiesigen Mütterschule ausgezeichnet: 15 Frauen, die aus Tschetschenien stammen.

Das Thema der Radikalisierung von Jugendlichen sei allgegenwärtig, sagt Maynat Kurbanova, aus Tschetschenien stammende Journalistin und Trainerin der ersten österreichischen Mütterschule. „Die tschetschenischen Mütter haben Angst um ihre Kinder, weil sie nicht wissen, womit sie es zu tun haben: Wer sind diese bösen, unsichtbaren Anwerber?“ Deshalb sei das Angebot der Mütterschule auch sehr gut angenommen worden.

Stigmatisierte Familien

Einige der Teilnehmerinnen haben in dem Kurs nach den Worten Kurbanovas zum ersten Mal in ihrem Leben mit Fremden offen über diese Themen gesprochen – „ohne Angst, verurteilt zu werden“. Damit helfen die Mütterschulen auch, Tabus zu überwinden und der Gefahr von Radikalisierung ins Gesicht zu sehen. Denn meist werden betroffene Familien, die Kinder an Gruppen wie die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verloren haben, dann von ihrer Umgebung stigmatisiert.

Schlaffers Idee geht um die Welt: Angesichts der hohen Zahl an jugendlichen Jihad-Rekruten aus Europa wollen auch andere EU-Länder Mütterschulen anbieten. In der britischen Stadt Luton, 45 Kilometer nördlich von London, soll im April die erste Mütterschule starten. Schweden will im Rahmen der nationalen Anti-Extremismus-Strategie Pilotschulen in Stockholm, Göteborg, Örebro und Borlänge einführen.

Wenngleich sich die Mütterschulen prinzipiell gegen die Verführungsversuche aller extremistischen Gruppen richten, so geht es doch vor allem um den IS. „Die Attraktion des IS ist die Struktur“, sagt Projektinitiatorin Schlaffer. Die Jugendlichen, die Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren, suchen einen Platz, eine Verankerung. „Der IS verspricht ihnen das.“ Die Radikalisierung vollzieht sich deshalb sehr schnell, im Schnitt in drei bis sechs Monaten.

Das Wichtigste für die Eltern sei dann, präsent zu sein und die Türen nicht zuzuschlagen, sagt Schlaffer. Auch dann nicht, wenn der Jugendliche die Familie schon verlassen hat. Denn so schnell wie die Radikalisierung setzt oft auch die Desillusionierung ein. „Nach etwa sechs Monaten kommen die ersten Hilferufe.“

Fatima Ezzarhouni aus Antwerpen hat vor etwas mehr als zwei Monaten zum letzten Mal etwas von ihrem Sohn gehört. Vor zwei Jahren, mit 18, machte er sich auf den Weg nach Syrien. „Als Mutter fühle ich mich gescheitert.“ Was ihr Sohn ihr mitteile, wenn er sich melde? Fatima Ezzarhouni zuckt etwas hilflos mit den Schultern. „Ich glaube, er ist nicht glücklich. Und er ist nicht froh, dass ich mit den Medien gesprochen habe.“

AUF EINEN BLICK

„Mütterschulen gegen Extremismus“ ist ein Projekt, das 2012 von Frauen ohne Grenzen ins Leben gerufen wurde. Derzeit gibt es solche Schulen in Indonesien, Indien/Kashmir, Pakistan, Tadschikistan, Tansania (Sansibar), Nigeria, Belgien und Österreich, bald auch in Großbritannien und Schweden. Den Frauen wird geholfen, Frühwarnsignale von einer Radikalisierung zu erkennen und darauf zu reagieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2016)

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