Brandkatastrophe im Grenfell Tower: Hunderte Opfer befürchtet

Hohe Opferzahl befürchtet: Das ausgebrannte Wohnhaus im Nordwesten Londons.
Hohe Opferzahl befürchtet: Das ausgebrannte Wohnhaus im Nordwesten Londons.(c) APA/AFP/TOLGA AKMEN
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Noch immer werden viele Bewohner vermisst. Da weiter Feuer glosen, bleibt den Helfern der Zutritt zur Brandruine versperrt.

London. London steht erneut unter Schock. Selbst die Zurückhaltung und Vorsicht der Behörden können nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass der Brand in dem 24-stöckigen Grenfell Tower im Westen der Stadt eine historische Tragödie war. Polizeikommandant Stuart Cundy sprach gestern von einem „Feuer von beispiellosem Ausmaß“. Er bestätigte vorerst 17 Todesopfer, aber hinter vorgehaltener Hand wurden Befürchtungen von „Hunderten Opfern“ laut.

Während die Feuerwehr den Brand mittlerweile unter Kontrolle hat, konnte bisher kein „Brand aus“ verkündet werden. In den obersten Etagen schwelten noch Feuer. Weil das Gebäude aber durch den Brand „strukturell beschädigt“ wurde, konnten vorerst keine Einsatzkräfte dorthin geschickt werden.

Damit schwand auch die letzte Hoffnung, in den Brandresten noch Überlebende zu finden. Nach der vorläufigen Bilanz der Behörden hat der in der Nacht auf Mittwoch ausgebrochene Brand im Londoner Bezirk Kensington 17 Menschenleben gefordert. 78 Personen befanden sich gestern noch in sechs Krankenhäusern, davon waren 37 in ärztlicher Betreuung und von ihnen 17 in kritischem Zustand.

400 bis 600 Bewohner

Der Grenfell Tower war aber von 400 bis 600 Menschen bewohnt gewesen. Daher musste mit dem Schlimmsten gerechnet werden. Unter den Vermissten befanden sich ein zwölf Jahre altes Mädchen ebenso wie eine Familie mit drei Kindern oder ein 82-jähriger Mann. Obwohl das Hochhaus mehr als 120 Wohnungen hatte, wurden in der ersten Nacht nach der Katastrophe nur 44 Familien in Notunterkünften aufgenommen.

In den Momenten nach dem Brand ereigneten sich schreckliche Szenen: Ein Baby wurde „aus dem neunten oder zehnten Stock“ geworfen und von einem Passanten aufgefangen. Aus den Fenstern signalisierten verzweifelte Bewohner Helfern. Oft vergeblich.

Der Brand war in der Nacht auf Mittwoch um 00.54 Uhr gemeldet worden. An der rapiden Ausbreitung des Feuers soll nach ersten Vermutungen die neue Fassade des 1974 errichteten Hauses verantwortlich gewesen sein. Bei der Sanierung des Sozialbaus im Vorjahr wurde eine neue Verkleidung angebracht, bei der zwischen Aluminiumplatten hochbrennbares Material benutzt worden sei.

Kritik wurde auch an mangelnden Sicherheitsvorkehrungen laut. In dem 24-stöckigen Haus gab es eine einzige Stiege als Fluchtweg. Viele Augenzeugen berichteten, sie hätten keinen Alarm gehört. Wassersprenkler fehlten. „Es war eine Katastrophe auf Abruf”, sagte der Architekt und Feuerexperte Sam Webb. „Wir leben immer noch in Hochhäusern aus der Nachkriegszeit, die wir mit hochbrennbaren Materialien umhüllen, und dann sind wir überrascht, wenn sie abbrennen.“

In Großbritannien gibt es rund 4000 Hochhäuser. Viele wurden nach dem Krieg errichtet, um den Menschen aus Substandardquartieren neue Lebensqualität zu ermöglichen. Über die Jahrzehnte wurden viele dieser Gebäude wieder baufällig. Der Kollaps des öffentlichen Wohnbaus hat zu Nachlässigkeit geführt. Gewinnmaximierung steht über Sicherheit, Behübschung genießt Vorrang vor struktureller Erneuerung.

Der Grenfell Tower war ein Paradebeispiel dafür. Er befindet sich im Norden von Kensington, einem der reichsten Bezirke Londons und einem der teuersten Wohnbezirke der Welt. In South Kensington, mit den Stadtteilen Chelsea und Fulham, sind heute neue Wohnungen nicht unter einem siebenstelligen Betrag zu bekommen. Während aber in einem Sozialbau wie dem Grenfell Tower hunderte Menschen lebten, stehen Vorzeigeobjekte wie die Prachtneubauten rund um den benachbarten Hyde Park oft leer. Nur mehr ausländische Anleger können sich hier ein Quartier leisten. Es war der stete Verweis auf die Wohnungsnot, der in der Vorwoche die Labour-Kandidatin Emma Dent Coad erstmals den bisher stamm konservativen Wahlkreis gewinnen ließ.

May traf keine Opfer

Neben Oppositionschef Jeremy Corbyn besuchte gestern auch Premierministerin Theresa May den Unglücksort. Für Empörung sorgt aber, dass sie zwar Einsatzkräfte traf und pries, eine Begegnung mit den Opfern aber mied. Aus einem Fenster des Towers flatterte ein Blatt aus einem Schulheft. Da stand in Kinderhand: „Es geht mir sehr, sehr gut. Ich habe viel Pläne im Leben.“ Sie wurden grausam ausgelöscht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2017)

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