Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der kemalistischen Oppositionspartei CHP, ist zu Fuß von Ankara nach Istanbul gegangen – zum Ärger der regierenden AKP.
Die letzten Kilometer in Istanbul will Kemal Kılıçdaroğlu allein gehen. Nach über 400 Kilometern Marsch hat der Chef der kemalistischen CHP die Metropole am Bosporus bereits erreicht, Tausende haben ihn von Ankara bis hierher begleitet. In Erinnerung an den türkischen Staatsgründer, Atatürk, und in Erinnerung an den inhaftierten CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu, will Kılıçdaroğlu als Chef der größten Oppositionspartei symbolträchtig allein marschieren, ehe er am heutigen Sonntag im Istanbuler Stadtteil Maltepe zu einer Abschlusskundgebung lädt. In Maltepe ist auch Berberoğlu inhaftiert.
In den vergangenen Wochen hatte der „Marsch für Gerechtigkeit“ für viel Aufmerksamkeit und Unruhe innerhalb der Regierung gesorgt. Anlass für die Tour war das Urteil gegen Berberoğlu, einem ehemaligen Journalisten. Er soll jene belastenden Materialien an die kemalistisch geprägte Zeitung „Cumhuriyet“ weitergeleitet haben, die der damalige Chefredakteur, Can Dündar, veröffentlichte: Es ging um mutmaßliche Waffenlieferungen Ankaras an islamistische Organisationen in Syrien. Berberoğlu hat 25 Jahre ausgefasst.
Intellektuelle, Linke, Aleviten, Journalisten und sonstige Regierungskritiker haben den Gerechtigkeitsmarsch unterstützt, in der mittlerweile regierungshörigen Medienlandschaft nahm die Aktion aufgrund des großen Interesses außergewöhnlich viel Platz ein. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ jedoch verlauten, dass Kılıçdaroğlumöglicherweise mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müsse. Premier Binali Yıldırım sagte bei einer Pressekonferenz, dass die Aktion nach der Abschlusskundgebung beendet werden müsse; Gerechtigkeit werde nicht auf den Straßen, sondern im Parlament diskutiert. Dabei war die CHP mitverantwortlich für die Verhaftung ihres Abgeordneten Berberoğlu, sagen Vertreter der prokurdischen HDP. Die CHP hat nämlich, gemeinsam mit der AKP, für die Aufhebung der Immunität vieler Abgeordneter gestimmt. Bis dato war hauptsächlich die HDP betroffen von juristischer Verfolgung – den meisten wird Terrorunterstützung vorgeworfen; Berberoğlu ist der erste Politiker der CHP, der nun verurteilt wurde.
„Gandhi-Rekord gebrochen.“ Kurz vor Ende des Marsches sagte Kılıçdaroğlu, dass die Aktion ein Ende finde, die „Suche nach Gerechtigkeit“ aber weitergehe. Er begann die Tour am 15. Juni im Zentrum Ankaras und kam vor zwei Tagen in Istanbul an. An der Stadtgrenze ließ er weiße Friedenstauben fliegen. Auf dem Weg haben auch viele Prominente den CHP-Chef begleitet. Nach 430 Kilometern habe Kılıçdaroğlumit 600.000 Schritten auch den Rekord Mahatma Gandhis bei seinem „Salzmarsch“ 1930 gebrochen, berichten türkische Medien. ?
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2017)