Im Auge des Sturms, der die Nation für ein paar Tage vereinte

Die Einsamkeit im Hochwasser von Houston. Viele Opfer waren erst einmal auf sich allein gestellt, bis Hilfe kam.
Die Einsamkeit im Hochwasser von Houston. Viele Opfer waren erst einmal auf sich allein gestellt, bis Hilfe kam.(c) APA/AFP/BRENDAN SMIALOWSKI
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Kann in den USA eine Naturkatastrophe wie der Wirbelsturm "Harvey" dazu beitragen, die extreme Polarisierung zu überwinden und der Regierung Trump zu einem Neustart zu verhelfen? Die Amerikaner standen in diesen Tagen in Houston zusammen - unabhängig von Hautfarbe und Weltanschauung.

Zu Beginn des Labor-Day-Wochenendes, das in den USA traditionell die Sommerferien beschließt und das die Amerikaner mit Strandausflügen, Grillpartys, Paraden und Feuerwerken begehen, wollte Donald Trump am Samstag alles richtig machen, so wie es das Lehrbuch für US-Präsidenten in Krisenzeiten vorschreibt: den Opfern des Tropensturms „Harvey“ in Houston und Lake Charles die Hände schütteln, sie an die breite Brust drücken, ihnen jovial auf die Schultern klopfen und Trost und Mut zusprechen, zuhören, mit ihnen beten, die Größe des Lone-Star-States Texas und der Nation beschwören, das Ego hintanstellen und die Nationalhymne schmettern – wie es Vizepräsident Mike Pence bei einem Lokalaugenschein in Rockport vorexerziert hat.

Der Dank an Gouverneur Greg Abbott, die Lokalbehörden und vor allem die zahllosen selbstlosen Helfer, das stille Gedenken an die Dutzenden in den Fluten umgekommenen Toten: Das gehört zu den Ritualen der Trauerbewältigung und des Neuanfangs, die die USA von ihrem Präsidenten erwarten. Niemand beherrschte dies so gut wie Barack Obama, der nach einem Massaker in einer Methodistenkirche in Charleston vor zwei Jahren wie ein Reverend, leise und inbrünstig, den Gospel „Amazing Grace“ intonierte, worauf die gesamte Gemeinde in den Gesang einfiel. Damals blieb kein Auge trocken.

Eine Million Dollar, so kündigte der Milliardär Trump im Vorfeld seiner zweiten Stippvisite innerhalb weniger Tage im Katastrophengebiet in Texas und Louisiana an, werde er aus seiner Privatschatulle für die Opfer der nachgerade biblischen Sintflut beisteuern. Zudem versprach er zwei Tranchen an Nothilfe von insgesamt 14,5 Milliarden Dollar. Dies verschafft ihm einen Sympathiebonus in Texas, dem republikanisch dominierten Bundesstaat. Hunderte Trump-Fans hatten ihm schon am Dienstag in Corpus Christi mit USA-Sprechchören einen begeisterten Empfang bereitet, und Trump schnappte sich in der Manier des Showman unter dem Gejohle die texanische Fahne.

Präsenz zeigen und sich keine Blöße geben, wie neulich, als er gleich zwei Mal auf Twitter von „heel“ statt von „heal“ schrieb: Heilen, versöhnen, einen – so lautet die Devise für Trump. Vielleicht spukten ihm ja noch die High Heels der First Lady im Kopf herum, die in den sozialen Medien für so viel Häme gesorgt hatten. Er weiß, was auf dem Spiel steht: George W. Bush wurde den Makel nie mehr los, als er 2005 im Spätsommer, Tage nach den schlimmsten Verwüstungen durch Hurrikan Katrina, vom Urlaub auf seiner Ranch im texanischen Crawford aufbrach, um auf dem Rückflug nach Washington aus der Luftperspektive der Air Force One das Ausmaß der Katastrophe in Augenschein zu nehmen. Das Foto aus der Präsidentenmaschine, hoch über der braunen Brühe, verfolgt Bush bis heute.

Auch Obama zögerte 2010 zunächst, nach Ausbruch der Ölkatastrophe infolge der Explosion einer Bohrinsel im Golf von Mexiko das Mississippi-Delta im Süden Louisianas zu besuchen. Obama kam letztlich zwei Mal und jagte im Konvoi von zwei Dutzend schwarzen Limousinen über die Landstraßen, die den Verkehr und das öffentliche Leben teilweise stilllegten. 2012 profilierte er sich dann kurz vor der Wahl als hemdsärmliger Krisenmanager an der Seite des republikanischen Gouverneurs Chris Christie, nachdem Hurrikan „Sandy“ über die Küste New Jerseys gefegt war und mehr als 100 Tote gefordert hatte.

Die texanische Golfküste schöner und besser wiederaufzubauen: Das gab Trump als Prämisse aus. Dafür muss er, in Kooperation mit dem Kongress, Milliarden Dollar an Soforthilfe bereitstellen und die politischen Gräben überwinden – Hilfe, die sich zehntausende Hausbesitzer, Geschäftsleute und nicht zuletzt Trump-Wähler vom Präsidenten versprechen. Jetzt zählen Taten und nicht Twitter-Botschaften.

(c) Grafik: Die Presse


Welle der Hilfsbereitschaft

Mitten in der größten Naturkatastrophe der USA seit Jahrzehnten spielten sich in der vergangenen Woche in Houston und anderswo derweil Szenen der Hilfsbereitschaft ab, die dem tief zerstrittenen Land einen Hauch von Hoffnung gaben. Gegner und Anhänger von Trump, Liberale und Konservative, Weiße, Schwarze und Hispanics, Christen und Muslime, illegale Einwanderer und rechtsgerichtete Waffenfans – sie alle trafen im Hochwasser in Houston aufeinander und versuchten, sich gegenseitig in der Notlage beizustehen. Die USA erlebten in diesen Tagen jenen Gemeinschaftssinn, auf den das Land so stolz ist und der fast in Vergessenheit geraten war. Erleichterung machte sich breit – auch wenn jeder ahnte, dass das Gefühl nicht lange anhalten würde.

Tausende von Helfern waren in den Fluten um Houston unterwegs, die Straßen, Brücken und Häuser verschluckt hatten. Unter ihnen waren Arik Modisette, Armeeveteran und Angestellter einer Baufirma aus Lufkin, rund 200 Kilometer nördlich von Houston, und ein paar Freunde. Sie hatten ein Boot mitgebracht, mit dem sie mehr als 80 Menschen, sechs Hunde und eine Katze aus dem Wasser gefischt haben, wie Modisette der „New York Times“ erzählte.

Leute wie Modisette besorgten sich selbst Unterkunft und Verpflegung und sie nahmen auch Chaos, Risken und lebensgefährliche Szenen bei ihren Rettungseinsätzen in Kauf. Denn manchmal wurden die Helfer selbst zu Opfern. Einigen Freiwilligen geht es indessen nicht nur um Nothilfe. Die Brüder Kenny und Gabe Vaughan aus dem texanischen Beaumont zum Beispiel packten ihr Boot auf ihren Pick-up-Truck und fuhren nach Houston, um Sturmopfer aus dem Wasser zu ziehen – auch in der Absicht, Amerika zu helfen. „Ich habe es satt, dass sich in unserem Land immer alle streiten“, sagte Kenny dem Fernsehsender CBS. Die gegenseitige spontane Hilfe über alle politischen, ethnischen und religiösen Grenzen hinweg, mache Amerika aus: „Dahin müssen wir zurück.“

Zwei von drei Amerikanern sind angewidert vom scharfen, oft vulgären Ton des Konflikts in Washington, sagen die Umfragen. Drei von vier befürchten, dass der Streit in Gewalt umschlagen könnte. Die einen geben dem Präsidenten die Schuld, der seine Gegner verhöhnt und Einwanderer beschimpft. Die anderen werfen den Trump-Gegnern vor, sich bis heute nicht mit dem Wahlsieg des Außenseiters abgefunden zu haben. Im Hochwasser, wo es um Leben und Tod ging, wirkten diese Auseinandersetzungen wie kleinliches Gezänk. Die Sintflut überdeckte politische und weltanschauliche Gegensätze zumindest für eine kurze Zeit. „Die Flut“, schreibt Jonah Goldberg im konservativen Magazin „National Review“ in einer Kolumne, „wäscht den ganzen Unsinn weg und legt die Anständigkeit der Amerikaner frei.“

Die Bilder der zupackenden Hilfsbereitschaft in und um Houston wärmten die Herzen der Amerikaner überall im Land. In Notzeiten kommt der Pioniergeist zum Vorschein, der die Stärke und Größe der Nation ausmacht. Dan Patrick, der texanische Vizegouverneur, betonte: „Wir konzentrieren uns darauf, Nachbarn und Freunden zu helfen.“ Es sei nicht die richtige Zeit für große politische Debatten oder Schuldfragen, ob es beispielsweise nicht klüger gewesen wäre, die Menschen früher zu evakuieren oder ob der Klimawandel alles verschlimmert habe. Wie lange werden diese Eintracht im Auge des Sturms, die rare Demonstration von Harmonie andauern? Ist das alles nur eine Illusion, die wie eine Seifenblase platzt? Wann wird die Solidarität abebben und der Streit im Kongress wieder ausbrechen?

Selbst Donald Trump fand in der Stunde der Not zum Teil die richtigen Worte, indem er die nationale Einheit beschwor und das Land als einzige, große amerikanische Familie porträtierte. Er zeigte sich beeindruckt von der Größe und Wucht des Wirbelsturms – gerade groß genug für sein Ego und angemessen für seine Welt der Superlative, die er via Twitter-Stakkato verbreitete: „Historisch. Episch. Wow.“ In Corpus Christi und Austin, der liberalen Hipster-Hauptstadt von Texas und Hotspot einer kreativen Szene, gab er sich bei seinem ersten Kurztrip im Krisenzentrum geradezu kindlich fasziniert vom Instrumentarium der Macht, die gegen eine Naturgewalt wie „Harvey“ zum Einsatz kommt – inklusive Nationalgarde, Marine und Küstenwache.

Sieben Monate der Präsidentschaft Trumps sind ins Land gezogen, mit immer neuen Aufregungen und Turbulenzen. Houston könnte die Wende markieren für einen Neustart – so hoffen es zumindest unverbesserliche Optimisten, nicht zuletzt im Weißen Haus.

FAKTEN

125Milliarden Dollar an Finanzhilfe fordert der texanische Gouverneur Greg Abbott von Washington.

70Prozent der Hausbesitzer im Großraum Houston sind nicht gegen Schäden durch Wirbelstürme oder Hurrikans versichert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2017)

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