„Europäisch ist kein Schimpfwort“

Behinderung der freien Lehre. Im vergangenen Winter protestierten Studierende gegen die Schließung der Europäischen Universität.
Behinderung der freien Lehre. Im vergangenen Winter protestierten Studierende gegen die Schließung der Europäischen Universität.imago/ZUMA Press
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Wie eine renommierte liberale Hochschule im russischen St. Petersburg wegen Formalitäten beinahe behördlich geschlossen wurde. Und nun doch wieder Studenten ausbilden darf.

Maria wärmt sich mit einem Tee in der Cafeteria. Ein paar Minuten noch bis zur nächsten Vorlesung. Seit einer Woche lebt sie in St. Petersburg. Die 22-Jährige mit Hornbrille und Baskenmütze stammt aus Belgorod an der russisch-ukrainischen Grenze. In den kalten Norden ist sie gezogen, um zu studieren: ein Magisterstudium in Kunstgeschichte an der Europäischen Universität St. Petersburg. Ein „Fenster nach Europa“ sei die familiäre Einrichtung, an der man den Vorträgen „lebender Legenden“ lauschen könne. Ein „Auszug aus der Komfortzone“ ist für Maria der Umzug in die Metropole an der Newa, und gleichzeitig ein „short cut“, um Teil der weltweiten Wissenschaftsgemeinde zu werden, wie die junge Frau schwärmt. Dass die Universität nach mehr als einem Jahr Zwangspause mit dem Wintersemester ihre Tore wieder geöffnet hat, stimmt sie glücklich. Skeptisch waren ihre Eltern. „Sie machen sich Sorgen, ob ich mein Studium hier abschließen kann.“

Begeisterte Studenten trifft man viele in den Gängen der „Europäischen“. Wer hier studiert, hat sich bewusst dafür entschieden, schließlich zahlt man Studiengebühren von 150.000 Rubel pro Jahr, 2000 Euro. Die Universität ist eine Ausnahmeinstitution im russischen Hochschulwesen:

eine private Einrichtung, getragen von einer Stiftung, finanziert durch Sponsoren. Bekannte Intellektuelle wie der Historiker Iwan Kurilla oder der Politologe und Kolumnist Wladimir Gelman lehren hier. Es ist ein Ort der freien Debatte, an dem Studierende die Themen ihrer Abschlussarbeit selbst wählen – eine Seltenheit in Russland. Und: Die Universität vereint Lehre und Forschung. Auch das ist ungewöhnlich in Russland, wo Hochschulen lediglich Studierende ausbilden. Die Europäische Universität sei „eine der stärksten Einrichtungen im Bereich der Human- und Sozialwissenschaften im Land“, fasst die Rektoratsmitarbeiterin Alla Samoljotowa zusammen. Damit ist die Einrichtung auch eine Universität, die zusehends in Konflikt mit dem Zeitgeist im Land steht. Die konservative Wende in Kultur und Geistesleben, antiwestliche Propaganda und patriotische Aufrufe hinterlassen auch im Bildungssektor Spuren.

Kein Schimpfwort. Nicht überall seien die Absolventen der „Europäischen“ gern gesehen, erklärt Geschichtsprofessor Wladimir Lapin. Vor allem in staatlichen Strukturen sei eine gewisse Skepsis zu bemerken. Der 64-Jährige mit dem grau melierten Bart zählt seit 1997 zum Lehrkörper. Damals war Europa in Konjunktur. Heute stehe man in Verdacht, ein ausländischer Agent zu sein. „Wir nennen uns europäisch, weil Russland ein Teil Europas ist. Für uns ist das kein Schimpfwort“, erklärt Lapin. „Wir bilden Spezialisten für Russland aus, aber auf europäische Art.“ Doch ultrakonservativen Kräften ist die liberale Uni ein Dorn im Auge. Ein Lokalpolitiker initiierte eine Kampagne, die beinahe zur Schließung der Hochschule geführt hätte.

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