Wenn Frauen in der Türkei das Kopftuch ablegen

Ein Gegentrend in der Türkei sorgt für eine breite Diskussion über Bekleidungsvorschriften für Frauen.
Ein Gegentrend in der Türkei sorgt für eine breite Diskussion über Bekleidungsvorschriften für Frauen.(c) REUTERS (Murad Sezer)
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Immer mehr Userinnen erzählen in sozialen Medien davon, dass sie ihren Kopf nicht mehr bedecken. Sie zeigen einen Gegentrend in einem Land, das sich zunehmend islamisiert hat.

Ankara/Wien. Die Posts beinhalten meist zwei Bilder: Eines zeigt die jungen Frauen noch vor wenigen Jahren, mit Kopftuch und konservativ gekleidet, und ein weiteres dieselbe Person ohne Kopfbedeckung, in sommerlichen Kleidern oder bunt gefärbten Haaren, mit Piercings, Lippenstift und viel Modeschmuck. „Wir sind groß geworden, schön geworden, frei geworden“, schreiben sie zu ihren Posts auf Twitter dazu. Und emanzipiert, wie weitere anmerken – vom Druck der Familien und der Gesellschaft, ein Kopftuch tragen zu müssen.

Bereits seit vielen Tagen nehmen in den sozialen Medien weltweit zahlreiche User an einer Art Spiel teil und laden unter dem Hashtag #10YearsChallenge Bilder von sich hoch, die sie vor zehn Jahren und heute zeigen. In der Türkei haben viele junge Frauen diesen Hashtag „angepasst“: Sie wollen eigenen Angaben zufolge einen Gegentrend in einem Land zeigen, das sich zuletzt zunehmend islamisiert hat. „Gegen die Autorität“, postet eine junge Frau mit Brille und kurzen Haaren zu ihren beiden Fotos. „Die schwerste Entscheidung, aber auch die lohnendste“, eine andere – in ihre nunmehr offenen Haare hat sie ein rotes Band geflochten.

Von Bekleidung „provoziert“

In türkischen Medien, deren Großteil unter der Kuratel der regierenden AKP steht, wird normalerweise der umgekehrte Weg als „Erfolgsgeschichte“ geschildert: (Säkulare) Frauen, die den Weg zum Glauben finden und beginnen, ein Kopftuch zu tragen. So wird der aktuelle Trend auf Twitter vor allem von der konservativen Seite des Landes stark kritisiert. „Ich bin frei mit meinem Kopftuch“, postet eine junge Frau dazu. Eine andere bringt das Beispiel der irischen Sängerin Sinéad O'Connor, die zum Islam konvertiert ist und nun ihren Kopf bedeckt.

Für Frauenorganisationen in der Türkei sind der aktuelle Gegentrend und Trend einerlei; seit Jahren weisen sie darauf hin, dass Staat und Gesellschaft ein Mitspracherecht einfordern, was die Bekleidung der Frauen betrifft. Zuletzt flammte die Debatte erneut auf, als ein Mann im Bus eine junge Frau mit kurzen Shorts attackierte und später vor Gericht angab, sie habe ihn mit ihrer Bekleidung provoziert. In Istanbul gingen anschließend Hunderte Frauen mit und ohne Kopftuch gemeinsam auf die Straße – unter dem Motto „Mein Kopftuch oder meine Shorts gehen euch nichts an“.

Aktuell erschüttert der Fall Didem Uslu die Türkei: Die junge Frau aus Edirne, die verschiedenen Medien zufolge als Bauchtänzerin arbeitete, wurde ermordet. Als dringend tatverdächtig gilt ihr Vater, der sie nach einem Streit zunächst erwürgt, anschließend zerstückelt haben soll. Verteilt über mehrere Tage habe er ihre Überreste in einem nahen Wald vergraben – so schilderte er es selbst den Ermittlern. Die Öffentlichkeit ist freilich geschockt über die Grausamkeit des Mordes, in die Diskussion darüber mischen sich bisweilen aber Vorurteile über den Lebens- und Kleidungsstil des Opfers. Die hitzigen Debatten werden wiederum in sozialen Medien geführt.

440 Morde vergangenes Jahr

Im vergangenen Jahr sind in der Türkei 440 Frauen von Männern ermordet worden, im Jahr zuvor waren es 353 Frauen. Die Plattform „Wir stoppen die Gewalt an Frauen“ macht für die Morde nicht nur das repressive Frauenbild der islamistischen Regierung mitverantwortlich, sondern auch den zwei Jahre lang geltenden Ausnahmezustand, der eine Art Gesetzlosigkeit hervorgerufen habe. Als ein Ergebnis davon hätten sich allerdings die Vernetzung der betroffenen Vereine sowie der Widerstand gegen die Frauenpolitik der Regierung verstärkt. Aktuelle Kampagnen richten sich gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und für die Aufklärung der Frauenrechte bei Scheidungen. (duö)

Auf einen Blick

In sozialen Medien kursiert seit Tagen der Hashtag #10YearsChallenge, wobei User ihr aktuelles Bild mit einem Bild von vor zehn Jahren vergleichen. In der Türkei haben junge Frauen begonnen, Bilder von sich mit und ohne Kopftuch zu posten. Die Bilder sorgen für eine breite Diskussion über Bekleidungsvorschriften für Frauen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2019)

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