Deutschland: Wie ein Missbrauchsfall zu einem Behördenskandal wurde

APA/dpa/Christian Mathiesen
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Im norddeutschen Lügde sollen seit 2008 mindestens 31 Minderjährige Hunderte Male missbraucht und dabei gefilmt worden sein. Auch Jugendamt und Polizei könnten mitverantwortlich für die Vergehen sein.

Ein auf eine Couch gerichtetes Fotostativ. Es ist der Beweis für die Verbrechen, die sich über Jahre in einer heruntergekommenen Parzelle auf einem Campingplatz im norddeutschen Lügde, nahe Bielefeld, ereignet haben. Mindestens 31 Kinder sollen hier missbraucht und gefilmt worden sein. Zwischen vier und 13 Jahre alt waren die Opfer, vor allem Mädchen.

Von mehr als 1000 Einzeltaten seit 2008 geht die Polizei aus, bei denen der 56-Jährige und zwei weitere Hauptverdächtige sich an den Kindern vergangen haben sollen. Alle drei befinden sich in Untersuchungshaft. Vier weitere Personen könnten in den Fall verwickelt sein. Darunter eine Person, die Daten für eine der drei Hauptverdächtigen gelöscht haben könnte und ein 16-Jähriger, bei dem die Polizei kinderpornografisches Material sichergestellt hat, das auf dem Campingplatz entstanden sein soll.

Auch die achtjährige Pflegetochter des Hauptverdächtigen zählt zu den Opfern. Über das Mädchen soll der 56-Jährige Kontakt zu anderen Kindern hergestellt, sie mit Ausflügen, etwa ins Schwimmbad, zu sich gelockt haben.

Zusätzlich aber entpuppte sich der Missbrauchsfall in den vergangenen Wochen als Behördenskandal. Von einer "eklatanten Fehlleistung der Polizei", die ihn "fassungslos" mache, sprach der zuständige Landrat des Kreises Lippe Axel Lehmann.

Erster Verdacht vor 17 Jahren

Schon vor 17 Jahren stand der Hauptverdächtige unter Verdacht, ein Mädchen missbraucht zu haben. Die Polizei prüft nun, ob er auch für andere Missbrauchsfälle vor 2008 verantwortlich sein könnte. "Es könnte schlimmer sein, als befürchtet", sagte diese Woche der Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Reul. "Es ist ungewöhnlich, dass bei so vielen Opfern über einen so langen Zeitraum abgesehen von zwei Hinweisgebern niemand etwas bemerkt haben will", sagte Ralf Vetter, der Leitende Oberstaatsanwalt in Detmold jüngst dem "Spiegel".

Im Visier der Ermittler stehen insgesamt 14 Behördenvertreter, darunter acht Mitarbeiter des Jugendamts in Hameln, das dem Hauptverdächtigen das damals sechsjährige Mädchen als Pflegekind anvertraute. Dabei hatte es 2016 bereits Hinweise auf die Vergehen des Hartz-IV-Empfängers gegeben - aus dem Bekanntenkreis der Pflegetochter und durch eine Mitarbeiterin des Arbeitsmarktservice.

Das Mädchen "macht mich erst heiß, will kuscheln, und dann doch nicht", soll der Deutsche dort gesagt haben. Und: "Sie hasst den Geruch von Männern", für Süßigkeiten würde sie aber alles machen. Sowohl Jugendamt als auch Polizei sollen damals informiert worden sein. Auch gegen zwei Polizisten, die den Hinweisen nicht nachgegangen sein sollen, wird nun wegen Strafvereitelung ermittelt.

Die Behörden wurden erst im November 2018 aktiv, nachdem eine Mutter, deren Kind selbst von dem Campingplatz-Bewohner missbraucht worden sein soll, Anzeige erstattete. Die Pflegetochter wurde darauf bei neuen Pflegeeltern untergebracht.

155 Datenträger verschwunden

Vergangene Woche dann war das Verschwinden etlicher Beweismittel aus dem zuständigen Polizeirevier bekannt geworden. 155 DVDs und CDs, die die Polizei auf dem Campingplatz und in der Wohnung des Hauptverdächtigen gefunden hatte, sind - wohl aus Nachlässigkeit - nicht mehr auffindbar. Die Datenträger in einer Mappe und in einem Aluminiumkoffer sollten in eine extra eingerichtete Asservatenkammer umgelagert werden. Dabei fiel auf, dass das Material fehlte.

Ein solches Versagen wollen sich die Behörden nicht mehr zuschreiben lassen. 60 Ermittler arbeiten nun an dem Fall, der zuständige Polizeidirektor wurde entlassen, ein hochrangiger Behördenvertreter versetzt.

(me)

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