Erdbeben und Tsunami zwangen in Japan tausende Menschen zur Flucht. Zurück ließen sie ihre Häuser und über eine Million ihrer Haustiere. Hunderttausende dürften bereits verendet sein.
Fukushima/Genf. „Die Bewohner gingen davon aus, ihre Häuser nur für ein paar Tage zu verlassen. Wie angeordnet, ließen sie ihre Haustiere zurück – angekettet oder eingesperrt in Käfige, versorgt mit Nahrung und Wasser für wenige Tage“, erzählt Chandra Sheppard, Mitarbeiterin der japanischen Tierrettungsorganisation „Animal Refuge Kansai“. Dass die Menschen nach dem schweren Beben und Tsunami, der die Atomanlage Fukushima zerstörte, für Monate, vielleicht für immer von ihrem Zuhause und ihren Tieren fernblieben, damit rechnete niemand.
„Wir nehmen an, dass insgesamt über eine Million Tiere im Katastrophengebiet zurückgelassen wurden und wohl größtenteils verhungerten“, erklärt Sheppard. Die Bilder aus der Sperrzone unterstreichen ihre Befürchtungen: Pferde, Hunde und Katzen liegen tot auf der Straße oder noch angekettet in den Innenhöfen der Häuser. Abgemagerte Hunde streunen durch die Ruinen.
Killerkommandos räumen auf
In der Region Fukushima lebten vor der Katastrophe rund 18.000 Hunde und etwa gleich viel Katzen. Dazu kommen Tausende von Kühen, Schweinen, Hühnern und Pferde. Um die Umwelt und die öffentliche Gesundheit zu schützen, rückten vergangenen Monat Killerkommandos der Provinzregierung in Strahlenschutzbekleidung aus, um die noch lebenden Tiere auf den Bauernhöfen in der 20 Kilometer-„No-go-Zone“ zu töten. Mitarbeiter von Tierrettungsorganisationen haben die Hoffnung, in der Sperrzone auf lebende Haustiere zu stoßen, jedoch noch nicht aufgegeben. Laut Sheppard war es anfangs leicht, sich in die Sperrzone zu schmuggeln. Doch nun sei die Zone abgesichert. Bei unerlaubtem Betreten drohen Geld- und sogar Gefängnisstrafen.
Auch die Organisation „Japan Earthquake Animal Rescue and Support“ ist aktiv. Trotz Strahlengefahr sind Teams in AKW-Nähe vorgedrungen, um verlassene Tiere zu retten oder sie wenigstens mit Nahrung zu versorgen. Besitzer von Haustieren, die ohne ihre Lieblinge flüchteten, schicken der Organisation Bilder ihrer Tiere mit der Bitte, sie doch zu suchen.
„Wir haben bis jetzt 117 Hunde, 15 Katzen, ein Meerschweinchen und einen Vogel, ein Schwarzköpfchen, aus der Sperrzone gerettet“, erklärt Chandra Sheppard. Einige Tiere konnten wieder ihren Besitzern übergeben werden, die Mehrheit bleibt aber in der Obhut der Organisation. Die Evakuationszentren sind überfüllt. In den meisten sind Haustiere nicht erlaubt. „Die Leute halten ihr Tier in ihrem Auto, um es trotz allem bei sich behalten zu können. Doch mit der Zeit und den steigenden Temperaturen ist das keine Lösung“, sagt Sheppard. „Unsere Erfahrung zeigt, dass auch in den von der Regierung zur Verfügung gestellten Häusern keine Haustiere erlaubt sind. Viele sind daher gezwungen, ihre Lieblinge zur Adoption freizugeben.“
Untersuchung vor Rückkehr
Japans Regierung hat lange Zeit die verendenden Haustiere in der Sperrzone ignoriert. Anfang Mai deutete sie eine leichte Kursänderung an. Jeweils ein Mitglied jeder evakuierten Familie durfte für wenige Stunden zu Hab und Gut zurückkehren. Laut der Zeitung „Asahi Shimbun“ wurden die Bewohner dazu angehalten, ihre Tiere im Garten anzubinden, damit diese später von den Behörden abgeholt werden könnten. Bevor die Tiere zu neuen Unterkünften transportiert wurden, standen Untersuchungen an. „Keines der Tiere war so verstrahlt, dass eine Dekontamination nötig gewesen wäre“, sagt Konishi Yutaka vom japanischen Umweltministerium. „Wir hoffen, dass die Regierung diesem Kurs treu bleibt.“
Diese Hoffnung teilen auch die privaten Tierschutzorganisationen. Denn wenn künftig die Sperrzone auf einen 30-Kilometer-Radius erweitert wird, drohen tausende weitere Tiere zu verenden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2011)