"Vielen Frauen fehlt das Geburtserlebnis"

Psychologin Judith Raunig betreut Frauen nach einem Kaiserschnitt. Zu ihrem Job kam sie durch ganz persönliche Erfahrungen bei ihrer ersten Entbindung.

Was belastet Frauen, die durch eine Sectio ihr Kind geboren haben, nach Ihrer Erfahrung am meisten?

Judith Raunig: Grundsätzlich belastet ein Kaiserschnitt jene Frauen mehr, bei denen es ungeplant dazu gekommen ist. Vielen Frauen fehlt das Geburtserlebnis. Sie haben sich eine natürliche Geburt gewünscht, doch nun war es der Arzt, der ihr Kind geboren hat, nicht sie selber. Zudem hatten viele das Gefühl, das über sie hinweg entschieden wurde.

Manche versuchen diese Frauen zu trösten, indem sie sagen: „Hauptsache dein Kind ist gesund.“ Ist das hilfreich?

Im Gegenteil! Frauen, die einen Kaiserschnitt hatten, haben ambivalente Gefühle: Einerseits sind sie enttäuscht, wütend, fühlen sich ohnmächtig. Andererseits sind sie natürlich glücklich über ihr Kind. Wenn man ihnen sagt „Hauptsache dein Kind ist gesund“, dann meint man damit auch: „Wenn du nicht glücklich sein kannst, dass dein Kind gesund ist, bist du eine schlechte Mutter“. Das erzeugt Schuldgefühle.

Oft hört man von betroffenen Frauen, dass die Idealisierung der natürlichen Geburt ihre Enttäuschung nach einem Kaiserschnitt verstärkt habe.

Ja, es ist schon oft so, dass Frauen dem Trugschluss unterliegen: Hätte ich nur normal geboren, wäre alles gut gewesen. Zu sagen, eine natürliche Geburt ist gut, der Kaiserschnitt schlecht, stimmt so nicht.

Ist der Drang nach einer perfekten Geburt mitschuld, dass viele Frauen enttäuscht sind, wenn es doch zu einer Sectio kommt?

Genau! Viele bilden sich ein, es hat etwas mit der eigenen Leistung zu tun, und fühlen sich dann, als hätten sie versagt. Grundsätzlich ist es natürlich wichtig, sich gut vorzubereiten, trotzdem kann es zu einem Kaiserschnitt kommen. Eine von mir sehr geschätzte Hebamme, Brigitte Meissner, sagt dazu: Geburt ist auch Schicksal.

Was hilft den Frauen?

Mein Hilfsangebot besteht zum einen darin, dass die Mütter darüber reden können und all ihre Gefühle zeigen dürfen. Dann versuche ich gemeinsam mit den Frauen herauszufinden, wie sie der Kaiserschnitt an alte psychische Verletzungen erinnert. Zusätzlich gibt es auch Rituale, wie ein gemeinsames Bad mit dem Neugeborenen, um den versäumten Übergang nachzustellen. Im letzten Schritt schauen wir, ob die Frauen auch etwas Positives daraus ziehen, ob sie Schätze finden können.

Und die gibt es?

Ja, manche sagen, sie hätten gelernt, dass nicht alles im Leben kontrollierbar sei. Anderen hat es geholfen, sich selbst besser kennenzulernen. Ich wiederum bin durch den Kaiserschnitt zu meiner Arbeit gekommen.

Was raten Sie Frauen, die nach einem vorangegangenen Kaiserschnitt nun wieder schwanger sind?

Sich gut zu überlegen, was man bei der Geburt haben möchte und was nicht, sich aber nicht auf eine fixe Vorstellung zu versteifen: Manche meinen, der Kaiserschnitt war so schlimm, die nächste Geburt wird mich jetzt heilen. Es ist wichtig, dass Frauen sich mit der Kaiserschnitt-Entbindung aussöhnen, bevor es zur nächsten Geburt kommt.

Wie ist es Ihnen selbst ergangen, als Sie nach einem ungeplanten Kaiserschnitt in die zweite Geburt, die dann natürlich verlief, gegangen sind?

Ich war nach meinem Kaiserschnitt zwar nicht traumatisiert, weil ich gut begleitet wurde, aber doch sehr enttäuscht. Ich erinnere mich, wie ich nach der Geburt Glückwünsche bekommen und mir gedacht habe: Warum gratuliert man mir, ich habe mein Kind nicht geboren. Ich hatte mich monatelang vorbereitet und darauf gefreut. Viele Frauen wollen dieses Geburtserlebnis haben, es ist vermutlich das Urweiblichste überhaupt. Das wollte ich auch, und dann hat es nicht stattgefunden. Mir ist es aber gelungen, mich mit dem Kaiserschnitt auszusöhnen. Vor der zweiten Geburt habe ich mir immer wieder gesagt: Was kommt, das kommt, es wird dann so passen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2012)

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