Das europäische Modell der "Kernfamilie" hat sich nirgends durchgesetzt. Es wurde aber in Mischformen integriert.
In den 1960er-Jahren, als die Globalisierung als umfassendes kulturelles Phänomen greifbar wurde, kam die These auf, dass das westliche Familienmodell der „Kernfamilie“ zur weltweit dominanten Form des Zusammenlebens werde. „Auch nach einem halben Jahrhundert weiterer Forschung ist diese These ein interessanter Ausgangspunkt, jedoch um sie zu revidieren“, schreibt der Wiener Sozialhistoriker Reinhard Sieder in dem von ihm mitherausgegebenen Buch „Globalgeschichte“ (siehe auch oben). In seinen Forschungen ist er auf Fakten gestoßen, die der These widersprechen.
Sieder beschreibt im Detail die Situation in Lateinamerika und in China. Die Spanier stießen bei der „Conquista“ auf unterschiedlichste Hochzeitsriten und Familienformen: Vielerorts lebte die Oberschicht polygam, die breite Masse musste hingegen monogam sein; bei den Azteken gab es eine männliche Dominanz und einen Jungfrauenkult; und im Andenraum existier(t)en hingegen legaler vorehelicher Geschlechtsverkehr und „Probeehen“.
Missionare setzten christliche Eherituale durch, das europäische Gedankengut konnte die alten Bräuche aber nicht verdrängen, es wurde integriert. Zudem wirkten sich die kolonialen Gewohnheiten der Spanier aus, sich indigene Frauen als Konkubinen zu halten.
Der „indigen-christliche Synkretismus“ brachte laut Sieder vier heute vorherrschende Familientypen hervor: Bei der mestizischen Unterschicht in den Favelas dominieren Mutter-Kind-Familien – Männer unterhalten oft mehrere solcher Familien. Indigene Kleinbauern lehnen die zivile Ehe ab, Grundbesitzer leben in patriarchalen Wirtschaftsfamilien. Nur in der Mittelschicht gibt es bildungsbürgerliche Familien europäischen Zuschnitts.
Wesentlich später, erst mit der Machtergreifung der Kommunisten 1949, begann der europäische Einfluss in China zu wirken. Das Regime führte einen Kampf gegen die feudalistischen Großfamilien auf dem Land – mit arrangierten Ehen, Frauenkauf, Konkubinat, Kinderheirat und häuslicher Gewalt. Die Landreform wurde mit einem neuen Ehegesetz verknüpft: Das sowie der Wohnungsneubau in Städten ermöglichten die Entstehung von „Kernfamilien“ – die umgehend in Genossenschaften integriert wurden.
Seit den 1980er-Jahren diversifiziert sich die Lage in China: Auf dem Land wenden sich die Menschen einer kleinbäuerlichen Familienwirtschaft zu, in den Städten geht die Tendenz zu Zwei-Kind-Familien, in der Oberschicht wird auch Liebesheirat gebräuchlich. Allerdings betont Sieder, dass trotz formalrechtlicher Ähnlichkeiten die Familienkultur dezitiert nicht westlich sei.
In Lateinamerika und in China haben sich also westliche „Kernfamilien“ nicht durchgesetzt – es gibt aber viele Mischformen. Und auch die andauernde kulturelle Globalisierung z.B. durch US-Fernsehserien werde höchstens zur Ausbildung weiterer Synkretismen führen. Sieders Resümee: „Ein wachsender Teil der Weltbevölkerung wandert im Laufe des Lebens durch mehrere und verschiedene Haushalts- und Lebensformen; die ,Kernfamilie‘ ist nur eine von mehreren.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2013)