Wie viel Macht haben Eltern wirklich? Überraschend wenig

mueder Schueler - tired boy
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Kinder sind Gäste, schrieb die Reform-Pädagogin Maria Montessori. Mit ihrem Heranwachsen wird das immer deutlicher.

Ein junger Mann trägt das alte Silberbesteck ins Pfandhaus und kauft sich Markenkleidung. Mädchen lassen sich mit Vaters Alimenten den Busen vergrößern oder verkleinern – oder ein Tattoo stechen. Irgendwann zwischen zwölf und der Volljährigkeit kommt, mehr oder weniger dramatisch, der Moment, in dem Eltern feststellen, dass sie weniger Macht über ihre Sprösslinge haben, als sie dachten. Da will das pubertierende Mädchen z. B. im November mit dem Moped wegfahren. Kälte? Eis? Wurscht! „Soll ich vielleicht den Bus nehmen?“, schreit das gestern noch herzige Kind im Minirock. Soll man es anbinden? Diskutieren? Wie weit kann man gehen mit der Devise „Lass sie ihre Erfahrungen machen“? Und wenn er/sie sich selbst gefährdet?


Strapaziöses Leben plus Patchwork. Familien haben heute viele Formen, Väter und Mütter sind meist berufstätig, sie sind getrennt, gründen mit neuen Partnern, die ebenfalls Kinder haben, neue Familien, manche sind verfeindet, reden nicht miteinander oder aneinander vorbei. Früher sprach der Vater ein Machtwort und körperliche Züchtigung war üblich. War das besser? Im Gegenteil! Fast scheint es, als würde das Schicksal oder Gott die Kinder für einen Teil ihrer traurigen Vergangenheit entschädigen wollen. Waren sie früher oft unerwünscht, wurden misshandelt, als Anhängsel, keinesfalls als mündige Mitglieder einer Familie betrachtet, sind sie heute oft kleine oder größere Tyrannen, die nicht mitbestimmen sondern allein bestimmen.


Schlag auf den Mund. Meine Eltern haben mich sehr geliebt, aber es wäre ihnen nicht eingefallen, z.B. ihre Urlaubspläne nach mir zu richten. In den sechziger und siebziger Jahren – die vielleicht auch darum die große Zeit der Revolte wurden – bekam ein Kind, das frech war, mindestens einen Schlag auf den Mund oder auf die Hand, wenn nicht von den Eltern, dann von älteren Verwandten. Bücher wie „Der Struwwelpeter“ wurden durchaus ernst genommen: Ein Kind, das seine Suppe nicht aß, musste zur Strafe sterben, einem Kind, das am Daumen lutschte, schnitt der „Schneider mit der Schere“ die Daumen ab. Wer gute Eltern hatte, wie ich, der erlebte zumindest in Büchern die schrecklichen Folgen scheinbar harmloser Verfehlungen.

Später versuchten mein Vater und meine Mutter mich vor vielem zu warnen. Ich wurde zur Rebellin, zog aus und erklärte meiner fassungslosen Mutter, dass ich sie nie wieder sehen wolle. Später haben wir uns versöhnt. In der Pubertät wird mit der Erziehung abgerechnet. Hat man zu viel Druck ausgeübt? Oder zu wenig? Sind Strafen noch angebracht oder von gestern? Kinder lesen einem heute das Jugendschutzgesetz vor, in dem steht, wie lange sie ausbleiben dürfen – und eine „Tachtel“ ist womöglich strafbare Körperverletzung. Kinder waren und sind „Überraschungspackerln“ oder härter formuliert: ein Risiko. Die Mixtur des genetischen Cocktails ist kein Trost, weil nicht vorhersehbar. Kinder profilieren sich ferner im familiären Gefüge – je nach Temperament und Opportunität. Wenn das eine Kind wild ist, punktet das andere mit Bravheit. Lauter Imponderabilien. Natürlich muss es ein paar Regeln geben, um die Nerven der Familienmitglieder zu schonen.


Mehr Sprechen, weniger Strafen. Kinder sind heute weniger von den Eltern abhängig als früher, Schule, Clique, Medien wirken auf sie ein. Das einzige Mittel ist den Geldhahn zuzudrehen. Aber auch das ist nicht immer effektiv. „Kinder sind Gäste“, die wir eine Weile begleiten und wieder gehen lassen, frei nach Maria Montessori: Wenn wir sie zu sehr unter Druck setzen, gehen sie früher. Teilweise kommt mir aber vor, dass das Verhältnis zwischen den Generationen heute konsensorientierter ist als früher: Mehr Sprechen, weniger Strafen, scheint die Devise zu sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2014)

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