Wie Mütter die Richtung vorgeben

Mütter, die längere Zeit beim Kind sind, fühlen sich nicht nur als oberste Expertinnen – sie sind es auch.
Mütter, die längere Zeit beim Kind sind, fühlen sich nicht nur als oberste Expertinnen – sie sind es auch.Jerry & Marcy Monkman/Danita Delimont/picturedesk.com
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Väter fühlen sich von Müttern oft überkontrolliert, wenn sie sich um die Kinder kümmern wollen. Über Maternal Gatekeeping, die Gründe für mütterliche Barrieren - und die gesellschaftlichen Barrieren dahinter.

Väter sollen mehr Vater sein, hat man so viele Jahre lang verkündet. Man wollte selbstverständliche, selbstständige Kinderbetreuer. Sie sollten sich nicht ständig bei der Mutter Rat holen müssen, wie sie das Kind beruhigen, welche Windeln sie einkaufen sollen und wie heiß die Milch sein muss, welches Leiberl sie dem Dreijährigen anziehen und was sie ihm abends zu essen geben sollen.

Aber was, wenn der Vater das alles machen will – und die Mutter ihn im Alltag gar nicht lässt, nicht lernen lässt? Oder wenn sie, tut er es doch, so viel kritisiert, dass er entnervt das Handtuch wirft? „Sind wir wirklich so inkompetent?“, fragen da sinngemäß Väter. „Warum lässt meine Frau sich nicht entlasten, warum kann sie sich nicht einmal aus dem Spiel nehmen – soll sie doch spazieren gehen, ein Buch lesen, ins Kino gehen! Statt mich zu beaufsichtigen wie die Lehrerin einen Fünfer-Kandidaten. Wie soll man da werden, was die Gesellschaft fordert: ein kompetenter Vater?“

Beim ersten Kind. Vor allem beim ersten Kind empfinden Untersuchungen zufolge viele Väter so. Sie haben das Gefühl, von ihren Partnerinnen jede Kompetenz abgesprochen zu bekommen, übersteigerten Ansprüchen genügen zu müssen, bei sämtlichen Abläufen kontrolliert zu werden. Sie fühlen sich zu Dienern degradiert, bevormundet, finden, dass ihr Einsatz herabgesetzt statt gewürdigt wird – und oft nicht einmal gewollt!

Die Mutter als Zerberus, der im Familienleben die Pforte zu den Kindern bewacht – und diese Pforte öffnet und schließt, wie es ihm beliebt: Es gibt einen englischen Begriff dafür, Maternal Gatekeeping. Da Medien und Buchbranche genauso gern Trends verkünden wie die Modeindustrie, könnte man versucht sein, daraus eine weitere Etappe in der Geschichte der Elternschaft nach dem Muster zu machen: Erst taten die Väter nichts. Dann wurden sie zu „neuen Vätern“. Und jetzt werden diese neuen Väter von ihren Frauen am neuen Vatersein gehindert . . .

Hierarchien der Nähe.Maternal Gatekeeping ist freilich kein neues Modewort und als Untersuchungsgegenstand schon Jahrzehnte alt. Ende der 1980er-Jahre gab es die ersten Studien zum mütterlichen Gatekeeping. Man verstand und versteht darunter die Einschränkung des väterlichen Einflusses in der Kinderbetreuung durch die Mutter, die Ausgrenzung des Vaters aus gewissen oder allen Bereichen der Kinderbetreuung und -erziehung. Die Mutter etabliert sozusagen unsichtbare Barrieren, verwaltet Nähe und Hierarchie – etwa indem sie dem Vater Informationen vorenthält oder seine Art, mit den Kindern umzugehen, kontrolliert.

Warum können Mütter überhaupt die Pforte zu den Kindern kontrollieren? Da sie immer noch mehrheitlich die Ersten sind, die dort stehen – und das für längere Zeit. Immer noch sind sie es, die nach der Geburt mehr Zeit mit dem Kind verbringen, länger in Karenz sind und oft über Jahre hinaus mehr Verantwortung übernehmen. Immer noch wird unterschwellig mehr von ihnen erwartet, haben sie eher ein schlechtes Gewissen, werden sie eher angerufen, wenn das Kind in der Schule erkrankt. Und immer noch wird zum Muttertag, wie der Handel vermeldet, viel mehr Geld für sie ausgegeben als am Vatertag für die Väter.

Gute und böse Gatekeeper. Das Phänomen Maternal Gatekeeping zeigt zunächst, wie erstaunlich groß nach wie vor der Einfluss von Müttern darauf ist, wie Väter und Kinder in Beziehung zueinander treten. Gatekeeping ist auch nicht nur verwerflich. Jeder Firmenchef ist ein Gatekeeper, die Frage ist, wie er mit Macht und Kontrolle umgeht. Lädt er andere ein, hereinzukommen, wenn es sinnvoll ist, oder hält er sie fern? Eines zeigen die Studien klar: Ermutigt die Mutter den Vater, sich einzubringen, steuert sie sein Engagement vor allem mithilfe von positivem Feedback, dann erhöht sich der Einsatz der Väter. Übt sie dagegen vor allem Kritik, schlimmstenfalls regelmäßig vor den Kindern oder gar Freunden, verringert sich der väterliche Einsatz. Einen anderen, psychologisch geradezu köstlichen Nebenaspekt hat der US-amerikanische Soziologe Jay Fagan herausgearbeitet, der an der Temple University in Philadelphia lehrt und forscht: Erleichtert die Mutter dem Vater den Zugang zu den Kindern, erhöht dies das väterliche Engagement der Väter nur dann, wenn sie es offenbar um der Vater-Kind-Beziehung willen tut, nicht aber, wenn sie damit ihre eigene Belastung verringern will . . .

„Schuldige“ Väter? Was bringt aber Mütter im Familienleben überhaupt dazu, dem Vater die Pforte zu den Kindern zu verschließen? Und warum ist es ihnen überhaupt so wichtig, an der Pforte zu stehen? Jay Fagan hat in seinen Studien einen direkten Zusammenhang zwischen mütterlichem Gatekeeping und väterlichem Einsatz herausgefunden: Je weniger der Vater anwesend ist, je kleiner sein Einsatz im Haushalt und bei den Kindern und je geringer die Mutter seine Kompetenz einschätzt, desto stärker hütet sie die Pforte. Ein Teufelskreis.

Sind also die Väter „schuld“? So einfach ist es wieder nicht. Denn in den betreffenden Studien wurde nicht erhoben, wie „kompetent“ die Väter tatsächlich sind, sondern nur, wie kompetent sie von den Müttern wahrgenommen werden. Darüber hinaus wurde zwar das Ausmaß des väterlichen zeitlichen Engagements erhoben – doch das kann, wie das Phänomen Maternal Gatekeeping zeigt, von der Mutter eingeschränkt sein.

Neben dem väterlichen Einsatz nennt Jay Fagan noch drei Hauptgründe für mütterliches Gatekeeping im Familienleben: hohe Ansprüche der Mutter, Freude an der Kontrolle über die familiären Belange und dazu die Tendenz, sich vor allem über Kinder und Familie zu definieren. Wie viel von diesem mütterlichen Perfektionismus, von der Tendenz, die eigene Identität auf die Mutterrolle zu konzentrieren, ist Charaktersache – und wie viel davon hat mit den Umständen zu tun? Bei dieser Frage helfen die bisherigen Studien kaum weiter. Dabei wäre gerade das besonders interessant.

Expertinnen des Anfangs. Sicher ist, dass Mütter, die eine Zeit lang in Karenz sind, sich meist nicht nur als die ersten Expertinnen fühlen, was ihr Kind betrifft, sondern es auch sind. Sie sind am vertrautesten mit dem Rhythmus des Babys, sie erkennen am besten, wenn es schlafen, essen, spielen will oder Schmerzen hat. Spezialisten können Nichtspezialisten nerven – auch das kennt man. Da sie Feinheiten beobachten und sich darauf versteifen, die andere entweder gar nicht oder zumindest als wenig bedeutsam wahrnehmen. Da sie detailversessen wirken, wo andere finden: „Geht ja eh so auch.“ Erfahrene Fotografen werden es viel schwerer haben, einfach auf den Knopf zu drücken und mit dem Ergebnis zufrieden zu sein – auch wenn viele andere die „Mängel“ gar nicht sehen.

Das ist zunächst ganz normal. Für die Paarbeziehung von Eltern kann dieser perspektivische Unterschied freilich dramatisch entfremdend wirken. Ein „ist nicht so wichtig“ kann für solche Mütter leicht als „ist nichtig“ verstanden werden. Die unzähligen Kleinigkeiten, mit denen sich Mütter abgeben, solange sie bedeutend mehr Zeit mit den Kindern verbringen, machen in dieser Zeit den Großteil ihrer Welt aus. Je weniger andere Rollen Platz haben, desto mehr konzentriert sich darauf die eigene Identität. Aus der Vogelperspektive dessen hingegen, der viel mehr Zeit in anderen (Berufs-)Sphären verbringt, kann diese Welt recht klein wirken. Doch mit jedem Detail verteidigen Gatekeeping-Mütter ihr Revier, ihre Daseinsberechtigung, ihre Macht über ihre Kinder – und zwar umso mehr, je mehr andere Bereiche wie Partnerschaft oder Beruf unbefriedigend bleiben (persönliche Unzufriedenheit und das Gefühl, in einer instabilen Partnerschaft zu leben, sind einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2015 zufolge weitere typische Faktoren bei den betreffenden Müttern). Mütterliches Gatekeeping ist eine Antwort auf unbefriedigende Zustände – eine sehr kontraproduktive, wie so oft in Paarbeziehungen.

Klingt das nicht alles wie ein alter Hut? Maternal Gatekeeping wird es wohl geben, solange Mütter lang über die ersten Monate hinaus mehr zuständig für die Kinderbetreuung bleiben, solang eine Gesellschaft es immer noch als gottgegeben hinnimmt, dass Männer „in der Regel“ weiterhin 40 Stunden arbeiten, Frauen anfangs gar nicht und dann Teilzeit – statt etwa beide Elternteile 30 Stunden. Solang Arbeit von zu Hause aus kein selbstverständlicher Teil des Berufslebens ist, wo immer möglich. Oder solange die Kinderbetreuung nicht flexibler wird. Und solang Mütter immer noch mehr Erwartungen zu erfüllen haben als Väter. Nicht, dass mit der richtigen Politik alles per se wundervoll würde. Aber den Rest an (Beziehungs-)Arbeit könnte man dann getrost den Paaren überlassen. Nicht die unsichtbaren Barrieren der Mütter sind jedenfalls das Hauptproblem, sondern die gesellschaftlichen realen und imaginären Barrieren, die dieses Gatekeeping fördern.

Einstweilen werden in vielen Familien die Mütter Gatekeeper bleiben – hoffentlich gute, und nicht übertrieben perfektionistische. Denn Perfektionismus ist ein Wohlstandsphänomen, das maßlos werden kann und derzeit wird, nicht nur in der Kindererziehung. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2016)

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