Natur-Defizit-Störung: Lieber Steckdose als Wald

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Viele Kinder können mit Wald und Wiese nichts mehr anfangen. Für diesen Zustand gibt es jetzt auch eine Diagnose, die Natur-Defizit-Störung. Um sie zu heilen, müssen vor allem Eltern ihre Ängste überwinden.

Bruno (8) war begeistert. Während die Erwachsenen im Landgasthaus Forelle und Kaiserschmarrn verdrückten und eine spezielle Form der Aufmerksamkeitsstörung, hervorgerufen durch ein, zwei Spritzer zu viel, entwickelten, schnappte er seine Taschenlampe und schloss sich den größeren Kindern an. Nach einer halben Stunde wurde Bruno gesucht – auf dem Spielplatz, wo brave Kinder normalerweise schaukeln oder klettern oder sonst etwas tun, was die städtische Parkgesellschaft für die gesunde Kindheit als angemessen erachtet. Nur gefunden wurde Bruno nicht. Nicht bei den Spielgeräten, nicht bei den Streicheltieren, nicht einmal bei den Gokarts. Vielleicht sei er im Wald, meinte eine andere Mutter. „Im Wald?“, hauchte Brunos Mutter. „Um Gottes Willen!“

Bruno wurde sichergestellt – am Rande eines Lagerfeuers! Mit einem Schnitzmesser! Als seine Mutter wieder zusammenhängend sprechen konnte, ratterte sie dem Kind sehr schnell eine lange Liste möglicher Katastrophen herunter, die ihm im Zuge seiner unüberlegten, ungeplanten und vor allem unüberwachten Expedition hätten zustoßen können: Stich- und Schnittverletzungen, Brandwunden, Bisse, Verirrungen oder böse Menschen: „Vor allem darfst du nie, nie alleine in den Wald gehen.“ Bruno hörte zu und empfing die Botschaft: Die Natur ist böse.

Wenn seine Mutter die richtige Dosis Angst erwischt hat, dürfte Bruno wieder für längere Zeit gegen alles Grüne, Braune und Wildwachsende immunisiert sein. Und sich damit in jene lange Reihe von Stadtkindern – aber nicht nur – einfügen, die Psychologen zunehmend Sorgen machen. Kinder, die keine Ahnung und daher auch kaum Interesse haben, was man in und mit Wald und Wiese anfängt.

Der Freiraum schrumpft. „Kinder, die ohne Aufsicht draußen spielen, sind eine aussterbende Spezies“, fasst Andreas Weber, Biologe, Philosoph und Autor, das Phänomen in seinem Buch „Mehr Matsch“ zusammen. Der durchschnittliche Radius, in dem Kinder sich auf eigene Faust bewegen dürfen, sei in den letzten hundert Jahren dramatisch geschrumpft: von geschätzten zehn Kilometern in den 1920ern auf kaum mehr als 200 Meter (in den meisten Fällen ungefähr die Länge der eigenen Wohnstraße, sofern man denn in einer solchen wohnt). 1990 trieben sich fast drei Viertel aller Kinder zwischen sechs und 13 Jahren täglich im Freien herum, 2003 waren es bereits weniger als die Hälfte. Dass das kein deutsches oder österreichisches Phänomen ist, zeigt eine Umfrage in Großbritannien: Mehr als 50 Prozent der britischen Sieben- bis Zwölfjährigen ist es verboten, alleine oder nur mit Freunden im Park um die Ecke zu spielen oder auf einen Baum zu klettern.

Diese Entfremdung wird mittlerweile mit mehr als nur Misstrauen beäugt. Der amerikanische Umweltaktivist Richard Louv („Das letzte Kind im Wald?“) zieht sogar dramatische Schlüsse: Gewalt, Suchtverhalten, Flucht in virtuelle Welten, Hyperaktivität, gestörte soziale Beziehungen und wachsende Gleichgültigkeit seien die Konsequenzen eines Lebens ohne Natur. Ein Viertklässler, den Louv zitiert, bringt es auf den Punkt: „Ich spiele lieber drinnen, wo die Steckdosen sind.“

Die Leute, die es in erster Linie angeht, nehmen solche Probleme allerdings nur dann wirklich ernst, wenn sie ein pathologisches Etikett tragen. In diesem Fall machte Louv den Vermittler und nannte es „Natur-Defizit-Störung“. Seither prasseln Handlungsanleitungen und Leitfäden auf die Eltern ein, die ihnen dringend nahe legen, ihren Kindern wieder die Natur zurückzugeben. Komplett mit Ideen und Projekten, wie man das anlegen könnte.

Denn Natur ist nicht gleich Natur. Es gibt hunderte Umweltprojekte, an denen Kinder teilnehmen können. Andreas Weber sieht darin allerdings ein Problem: Dabei gehe es meistens darum, die Umwelt zu retten oder Wald und Wiese „aufzuräumen“. Auf der Strecke bleibe der Genuss, das Erleben, das Wilde. Diesen feinen Unterschied macht auch der Neurobiologe Gerald Hüther in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Louvs Buch. Zentral sei nicht die Aneignung von Wissen über die Natur, sondern die am eigenen Leib gemachte Erfahrung in und mit der Natur. „Nur aus solchen Erfahrungen können im kindlichen Gehirn all jene inneren Einstellungen und Haltungen herausgeformt werden, die eine ,Nature-Child-Reunion‘ ermöglichen, die die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärken und die Entfaltung der in ihnen angelegten Potenziale, ihre Entdeckerfreude und Gestaltungslust wieder anregen und verloren gegangene Sinnbezüge wiederherstellen“, schreibt Hüther.

Dreck macht Angst. Um den Kindern solche Erfahrungen zu ermöglichen, müssen viele Eltern ihre eigenen Ängste überwinden: davor, was den Kindern zustoßen könnte, wenn sie aus den Augen gelassen werden. Oder davor, wie Kleidung und Schuhe aussehen, wenn im Park mit Wasser und Rindenmulch Flüsse gebaut und gestaut werden. Viele stecken auch in der Zwickmühle, dass sie Kinder nicht allein vor die Tür lassen wollen, zwischen Beruf und Haushalt aber keine Zeit haben, sie dauernd zu begleiten. Und deshalb sehr oft froh sind, wenn dort gespielt wird, wo die Steckdosen sind.

Auch wenn es auf den ersten Blick lächerlich klingt: Wenn einer Generation, die in der Kindheit draußen getobt hat, der kindliche Umgang mit der Natur wieder beigebracht werden muss, könnte die Ratgeber-Flut helfen, den ungesunden Angst-Stau aufzulösen. In den USA wurde „Das letzte Kind im Wald?“ jedenfalls ein Bestseller.

Leitfäden

Richard Louv:
Das letzte Kind im Wald?
Beltz Verlag
359 Seiten
19,95 Euro

Andreas Weber:
Mehr Matsch!
Ullstein-Verlag
256 Seiten
18 Euro

Claudia Toll, Ilka Sokolowski:
Raus aus dem Haus
Kosmos-Verlag
128 Seiten
15,40 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2011)

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