Psychologin: "Ständige Beschäftigung wirkt auf Kinder wie eine Droge"

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Die Psychologin Helle Jensen rät Müttern und Vätern, sich zurückzulehnen und doch einmal dem Nachwuchs die Führung zu überlassen.

Sie haben mit Kindern in dänischen Schulen Meditationsübungen gemacht, um ihre Empathie zu fördern. Hat das funktioniert?

Helle Jensen: Wir begannen mit Kindern ab dem Alter von sechs Jahren. Unsere Erfahrung ist, dass die Kinder diese Übungen mögen. Sie mögen die Stille in der Klasse. Sie machen Atemübungen oder verabreichen einander eine Schultermassage. Schon nach drei Minuten Atemübungen gibt es in der Klasse eine sehr gute und ruhige Arbeitsatmosphäre. Die Kinder wenden diese Techniken auch außerhalb der Schule an, zum Beispiel, wenn sie ein sehr wichtiges Fußballspiel haben. Sie wollen gewinnen und die Atemübungen helfen ihnen, zu fokussieren. Oder zur Entspannung, wenn sie nicht schlafen können.

Sie geben den Kindern also einen Raum, in dem nichts anderes passiert. Warum ist das notwendig?

Weil andauernd etwas passiert. Kinder sind heute immer unter Aufsicht. In der Schule, dann im Hort. Sie sind die ganze Zeit mit anderen Kindern zusammen, sie werden die ganze Zeit stimuliert. Daraus entstehen viele Konflikte. Es gibt ständig Angebote, Fußball, Ballett. Es gibt aber kaum mehr Orte, wo sie ohne Erwachsene sein können. Sie stehen ständig unter Beobachtung. Ihre Aufmerksamkeit ist immer nach außen gerichtet, selten nach innen. Das macht die Kinder unrund. Wenn sie den Kontakt zu sich selbst verlieren, verlieren sie aber auch die Fähigkeit zur Empathie und das Gefühl für Solidarität.

Kinder haben zu wenig im Herzen und zu viel im Kopf. Heißt das, wir stecken in einer Empathie-Krise?

Das könnte man so sagen. Wir als Eltern versuchen, perfekt zu sein. Dadurch sind wir aber oft nicht in Kontakt mit unseren Kindern. Und deshalb wissen die Kinder oft nicht, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf andere hat.

Was tut ein Kind, dem es an Empathie fehlt?

Das sind die sogenannten egozentrischen Kinder, für die es nur „ich, ich, ich“ gibt. Diese Kinder sind die ganze Zeit „on“: „Hör mir zu!“ – „Schau mich an!“ Das sind Kinder, die nur für das wahrgenommen werden, was sie tun, aber nicht für das, was sie sind. Wenn diese Kinder zornig oder traurig sind, können die Eltern meist nicht sehr gut damit umgehen. Eltern mögen so etwas ja normalerweise nicht besonders. Viele Eltern können nicht zeigen, dass so etwas auch zum Leben dazugehört. Daher lernen diese Kinder, diese Seite zu verdrängen, und verlieren den Kontakt zu sich selbst. Sie fühlen sich nur wohl, wenn sie über etwas sagen können: „Da bin ich gut.“ Das sind dann auch die Kinder, die anderen keinen Raum zugestehen können. Werden sie dafür kritisiert, schaukeln sie sich nur umso mehr auf. In Wahrheit versuchen diese Kinder oft, große Unsicherheit zu überspielen.

Was können die Eltern tun?

Sie können sich Zeit nehmen. Und versuchen, einfach normale Menschen zu sein, nicht perfekt. Die im Lauf eines Tages schon einmal dumme Dinge sagen, dafür aber die Verantwortung übernehmen. Wichtig ist es auch, einen Gang zurückzuschalten. Gemeinsam nichts tun, einige Minuten einfach herumliegen.

Ihre Bücher werden meist von berufstätigen Eltern gelesen, die daran gewöhnt sind, das meiste aus zu wenig Zeit herauszuholen. Wenn sie in diesen kleinen gemeinsamen Zeitfenstern ihren Kindern nichts bieten, haben sie oft ein schlechtes Gewissen.

Gute Eltern müssen ihren Kindern nicht dauernd etwas bieten. Viel besser wäre es, einfach zusammen zu sein. Wenn sich die Eltern ein bisschen entspannen, können auch die Kinder hin und wieder den Weg zeigen. Am Anfang wollen die Kinder ja gar nicht so viel Aktivität. Aber irgendwann werden sie süchtig danach. Ständige Beschäftigung wirkt wie eine Droge. Und die Kinder vergessen, was es heißt, sich selbst zu beschäftigen. Oder in der Natur zu sein. Wir sprechen ja mittlerweile von einem „Natur-Defizit-Syndrom“.

Die super besorgten, rundum aufmerksamen „Helikopter-Eltern“ kennen wir schon, in Dänemark kommen jetzt die „Curling-Eltern“ dazu. Was ist das?

Sie räumen ihren Kindern alle Hindernisse aus dem Weg. Sie wollen ihren Kindern jede Form von Schmerz ersparen. Wenn man aber keine Erfahrung mit Leiden hat, dann ist es wirklich dramatisch, wenn man es später zum ersten Mal erfährt. Die Eltern können überhaupt nicht mit dem Schmerz ihrer Kinder umgehen. Und sie wollen jede Form von Konflikt vermeiden. Das ist total falsch. Die Kinder lernen durch die Beziehung zu ihren Eltern. Das heißt, dass die Eltern auch Widerstand bieten müssen, etwas Verlässliches darstellen. Und nicht wie beim Curling: gebückt und ständig von einer Seite auf die andere wackelnd. Kinder müssen wissen: Was denkt meine Mutter? Was mag mein Vater, was mag er nicht?

Haben diese Eltern, die ihren Kindern jeden Schmerz ersparen wollen, zu viel Empathie?

Vielleicht. Vielleicht haben sie aber auch nur ein Problem zu unterscheiden: Was bin ich, und was ist mein Kind? Empathie ist das eine, meine Gefühle in ein Kind zu projizieren, ist etwas anderes.

Sind Mädchen empathischer als Buben?

Sie drücken sich anders aus. Sie spielen auch anders. Die Mädchen reden sehr viel darüber, wer mit wem spielt. Das kann so lange dauern, dass sie dann oft gar nicht mehr zum Spielen kommen. Die Buben sind anders, sie lassen jeden mitspielen, sagen dann aber: „Du kannst der Hund sein.“ Buben sind in ihrem Spiel sehr auf klare Hierarchien orientiert. Das ist aber nicht so sehr Empathie als eine unterschiedliche Form der Interaktion.

Helle Jensen
Geboren 1954

Psychologin
Jensen arbeitete als Konfliktberaterin am „Kempler-Institut“ in Dänemark und Norwegen.

FamilientherapeutinSie ist auch als Vortragende und Seminarleiterin in der Organisation „familylab“ tätig, die Jesper Juul zur Elternfortbildung gegründet hat.

Autorin
In Deutschland und Österreich wurde sie als Mitautorin Juuls bekannt, mit dem sie unter anderem „Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur“ schrieb. Darin arbeiten die beiden den tief greifenden Beziehungskonflikt zwischen Erwachsenen und Kindern auf. Ihre Antwort: Kinder wollen lernen, wollen kooperieren – allerdings nur, wenn im respektvollen Umgang ihre persönliche Integrität und Individualität anerkannt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2012)

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