Die fix gebundenen Kinder

(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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Von Los Angeles bis zum Prenzlauer Berg in Berlin (und auch in manchem Wiener Trendbezirk) steht "attachment parenting" hoch im Kurs. Diese Erziehung neigt zu Extremen wie stillen bis zum Alter von vier.

Die Aufregung war riesig, der Zorn war gerecht. Die junge Mutter, die sich auf dem Cover von „Time“ ablichten ließ, mit ihrem fast vierjährigen Sohn an der Brust, löste einen wüsten Debattensturm aus: darüber, wie lange Kinder eigentlich gestillt werden sollen. Doch diese Diskussion greift zu kurz. Sie ist nämlich nur ein Teil einer Denkschule, die noch viel mehr tut, als Kinder bis weit ins Kindergartenalter zu ermuntern, an der mütterlichen Brust zu nuckeln. Sie heißt „attachment parenting“, die bindungsorientierte Elternschaft – und sie steht derzeit von Los Angeles bis zum Prenzlauer Berg (mit einem kleinen Abstecher in Wiens Trendbezirke) bei vielen Müttern hoch im Kurs.

Das Problem dabei ist, dass das von dem amerikanischen Kinderarzt William Sears formulierte Erziehungskonzept zwar durchaus wohlmeinend ist, sehr gern aber extrem interpretiert und gelebt wird. Die mittlerweile allgemein gültige Lehrmeinung ist, dass eine gelungene Bindung zwischen Kind und Eltern die Entwicklung gefestigter Persönlichkeiten begünstigt und die Fähigkeit zu stabilen sozialen Beziehungen fördert.


Keine negativen Emotionen.
Genau darauf zielt auch „attachment parenting“ ab. Nur wie dieses Ziel erreicht wird, ist heftig umstritten. Denn Sears' Prinzipien – wie stillen, wenn das Kind Hunger hat, intensiver Körperkontakt auch in der Nacht oder die Vermeidung negativer Emotionen – werden teilweise so gnadenlos praktiziert, dass sie Mütter und Kinder zur Karikatur werden lassen. Und schlimmer noch, sagen Psychologen: Sie behindern auch die Kinder in ihrer Entwicklung.

Das ganze Problem ist eine Altersfrage. Bei Babys akzeptiert die Gesellschaft die meisten der Attachment-parenting-Prinzipien mittlerweile. Zu „Aufregern“ werden sie erst, wenn die Kinder ein bestimmtes Alter erreichen. Und wenn dann noch immer davon die Rede ist, dass Kinder bis zum Schulalter gestillt werden können, dass sie ruhig bis zur Pubertät im Bett der Eltern schlafen sollen oder dass sämtliche negativen Emotionen von ihnen ferngehalten werden sollen. „Das ist eine Grenzüberschreitung, eine Missachtung des Kindes. Das hat mit Bindung nichts mehr zu tun“, sagt der bekannte deutsche Kinderpsychiater und Autor Michael Winterhoff („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, „Lasst Kinder wieder Kinder sein!“). „Was tut man denn einem knapp vierjährigen Kind an, dessen Mutter sich mit ihm an der Brust auf einer Zeitschrift abbilden lässt? Das ist reiner Narzissmus.“

Die ersten neun Monate seien ausschlaggebend, um in einem Kind den Grundstein für das Urvertrauen zu seinen primären Bezugspersonen zu legen. Um einen Säugling, der darauf angewiesen ist, versorgt zu werden, müsse man sich immer sofort kümmern. Sonst bestehe die Gefahr, dass das Kind in seiner späteren Bindungsfähigkeit geschädigt werden könnte. „Aber irgendwann ist dann Schluss“, sagt Winterhoff. „Ab einem Alter von neun Monaten können Kinder auch einmal ein bis zwei Minuten warten. Und im Bett der Eltern haben sie ab einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt nichts mehr verloren. Auch im Interesse der Eltern nicht.“

Die Wiener Psychotherapeutin Sabine Völkl-Kernstock sieht das ähnlich. „Attachment parenting in dieser extremen Form steht in totalem Widerspruch zu allem, was wir aus der Entwicklungspsychologie wissen. Vor allem zu den Autonomiebestrebungen eines Kindes.“ Werden die Kinder von den Eltern „zu ihrem eigenen Besten“ in einer künstlichen Abhängigkeit gehalten, werden sie in gewisser Weise auch gezwungen, über die Zeit hinaus Kleinkinder zu bleiben.

Das kann zu einem Ungleichgewicht in der sozialen Entwicklung der Kinder führen. Zwar sind viele überzeugte Attachment-parenting-Anhänger der Meinung, Kinder sollten möglichst spät oder überhaupt nicht in einen Kindergarten gehen. Tun sie es aber doch, zeigt sich nicht selten, dass gerade diese Kinder Probleme mit dem sozialen Gefüge haben. Das liegt vor allem daran, dass ihre Eltern sie an die Erwartung gewöhnt haben, dass alle ihre Bedürfnisse immer und sofort befriedigt werden. Dadurch kann es Kindern schwerfallen zu akzeptieren, dass andere Personen ebenfalls Bedürfnisse (und manchmal einen ähnlich kategorischen Anspruch an deren Erfüllung) haben. Gleichzeitig haben die Kinder keinerlei Erfahrung im Umgang mit Frustrationen und negativen Emotionen, weil die Eltern sie dagegen immer hermetisch abgeschirmt haben.

Immer auf Pause eingestellt.
Unter dem Strich kommt trotz bester Absichten dabei oft eine niedrige Sozialkompetenz heraus. „Solche Kinder sehen nur sich und ihre Lustbefriedigung. Sie haben kein Unrechtsbewusstsein und wenig Empathie. Sie erkennen keine Zusammenhänge in Konflikten und können sie daher auch nicht lösen. Sie akzeptieren keine Strukturen und sind immer auf Pause eingestellt“, sagt Michael Winterhoff.

Bleibt die Frage, warum Eltern mit besten Absichten so übers Ziel hinausschießen. „Erziehungsperfektionismus“, sagt Völkl-Kernstock. „Man will nur ja alles richtig machen, alles muss gut sein für das Kind, es darf nie weinen und nie negative Gefühle erleben.“ Dazu kommt in einer durch und durch technologisierten Welt wohl auch die Sehnsucht nach Gegenentwürfen und nach „Natürlichkeit“. Nicht nur das Essen soll bio sein, sondern auch die Erziehung. Was deshalb allerdings nicht automatisch heißt, dass sie auch immer bekömmlich ist.

Aufreger

Jamie Lynne Grumet
(26) lebt in Kalifornien. Ihr Sohn Aram wird im Juni vier und wird von seiner Mutter noch immer gestillt. Grumet ist Anhängerin von „attachment parenting“ und will ihrem Sohn so lange die Brust geben, bis er selbst darauf verzichtet. Das Cover löste eine weltweite Kontroverse aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2012)

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