Experten: „Sonderschule gehört abgeschafft“

(c) APA (Hans Klaus Techt)
  • Drucken

Die UN-Konvention besagt, dass behinderten Kindern unentgeltlich das Recht auf integrativen Unterricht zusteht. Eine Aussonderung, wie sie noch immer in Form der Sonderschulen passiert, sei daher gesetzeswidrig.

INNSBRUCK. Rund die Hälfte aller Kinder mit Behinderung in Österreich wird in Sonderschulen unterrichtet. „Das ist ein Skandal und verstößt gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die Österreich 2008 unterzeichnet hat“, sagt Brigitte Petritsch, ehemalige steirische Landesschulinspektorin für Sonderpädagogik.

Die UN-Konvention besagt unter Artikel 24, dass behinderten Kindern unentgeltlich das Recht auf integrativen Unterricht zusteht. Eine Aussonderung, wie sie hierzulande noch immer in Form der Sonderschulen passiert, sei daher gesetzeswidrig. Petritsch, die als Expertin in Sachen Schulintegration gilt, fordert die Politik zum Handeln auf: „Die Umsetzung hängt allein vom Willen der politisch Verantwortlichen ab.“

Der ist in der Steiermark offensichtlich vorhanden: 85 Prozent aller behinderten Kinder besuchen bereits eine Regelschule. In den meisten anderen Bundesländern fehlt diese Bereitschaft. Schlusslicht ist Vorarlberg mit nur 20 Prozent Integrationsanteil. Tirol dümpelt mit rund 40Prozent ebenfalls im unteren Drittel dahin.

Ressourcen verschoben

Und das, obwohl mit dem Bezirk Reutte eine Vorzeigeregion existiert. Vor zwölf Jahren wurde im Tiroler Außerfern auf Druck betroffener Eltern die letzte Sonderschule geschlossen. Seitdem werden alle Kinder gemeinsam unterrichtet. „Das ist möglich, weil wir die Ressourcen, die zuvor in den Sonderschulen verbraucht wurden, nun für die Schulintegration einsetzen können“, sagt Michael Astl, Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums in Reutte, einer Schule ohne Schüler. Statt eigener Sonderschulklassen betreut man die Integrationsklassen im Bezirk.

Im übrigen Tirol nahmen die Verantwortlichen bislang keine Notiz vom Erfolgsmodell. Im Gegenteil: Die meisten Eltern kämpfen mit gewaltigen Schwierigkeiten, um überhaupt vom seit 1993 verankerten Recht auf Wahlfreiheit zwischen Sonder- und Regelschule Gebrauch zu machen.

Wie Claudia Eritscher: Seit Monaten kämpft die Alleinerzieherin aus Innsbruck gegen die Windmühlen des Tiroler Schulsystems. Ihr siebenjähriger Sohn Sebastian ist – überwiegend körperlich – behindert und sitzt im Rollstuhl. Eritscher wollte ihrem Sohn, wie es ihr laut Gesetz zusteht, den Besuch einer „normalen Volksschule“ ermöglichen: „In unserer Wohnortschule war es aus technischen Gründen nicht möglich, weil es dort keinen Lift gibt.“

Schließlich fand sich in der nahen Volksschule Innere Stadt ein Platz in der Integrationsklasse. Doch die Freude währte nur kurz: „Sebastian braucht aufgrund seiner Behinderung einen Assistenten.“ Allein – die Tiroler Bildungsabteilung deckelt seit 2003 die Schulassistenz per Erlass auf maximal 13,2 Stunden pro Woche und Kind. Sebastians Unterricht umfasst aber 35 Stunden pro Woche. Eritscher muss die Differenz aus eigener Tasche bezahlen, was sie knapp 1000 Euro im Monat kostet.

Wie lange sie das noch schafft, weiß sie nicht. Würde Sebastian eine Sonderschule besuchen, fielen keine Kosten an, weil dort Mittel für die Betreuung vorhanden wären. Für Expertin Petritsch ein Irrsinn: „Internationale Studien haben längst bewiesen, dass das doppelgleisige österreichische Modell der ,Wahlfreiheit‘ das teuerste in Europa ist. Zugleich wird durch die Bindung der Ressourcen an Sonderschulen Integration erschwert.“

Politik sieht keine Verantwortung

Die zuständigen Politiker weisen indes jede Verantwortung von sich. Tirols Soziallandesrat Gerhard Reheis (SPÖ), dessen Ressort für die Bereitstellung der Schulassistenz zuständig ist, beruft sich auf den Erlass aus der Bildungsabteilung: „Wie der Erlass 2003 zustande gekommen ist, weiß ich nicht. Aber wir sind dabei, ihn zu überarbeiten.“ Wie lange das dauert, und was genau geändert werden soll, kann er nicht sagen.

Bildungslandesrätin Beate Palfrader (ÖVP) war trotz mehrmaliger Nachfrage nicht erreichbar. Der für Sonderpädagogik zuständige Landesschulinspektor Josef Federspiel verweist auf die Zuständigkeit des Sozialressorts. Grundsätzlich meint er: „Mehr integrativer Unterricht wäre gut, aber dazu fehlen die Mittel.“ Eine Abschaffung der Sonderschulen stehe aber nicht zur Debatte, weil ohnehin Wahlfreiheit bestehe. Und viele Eltern seien mit den Sonderschulen ja sehr zufrieden.

AUF EINEN BLICK

Seit 1993 (Primarstufe) bzw. 1997 (Sekundarstufe) können Eltern behinderter Kinder zwischen Regelschule oder Sonderschule wählen. Für die neunte Schulstufe gibt es noch keine Wahlfreiheit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.