Humanistische Bildung immunisiert nicht gegen Barbarei

Humanistische Bildung immunisiert nicht
Humanistische Bildung immunisiert nicht(c) Michaela Bruckberger
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Philosoph Rudolf Burger und Altphilologe Karlheinz Töchterle über den Trugschluss, dass die Bildung den Menschen veredle und die „Entleerung“ des Gymnasiums.

Regen Briefwechsel pflegen die beiden schon länger – allein, zu einem persönlichen Treffen ist es bisher noch nie gekommen. „Die Presse“ hat den streitbaren Philosophen Rudolf Burger, Ex-Rektor der Angewandten, und den Altphilologen Karlheinz Töchterle, seit April Wissenschaftsminister, zum ausführlichen Gedankenaustausch gebeten. Herausgekommen ist dabei ein wohltuend scharfsinniger Dialog über humanistische Bildung, Ethik – und die Rolle der Unis im Wandel der Zeit.

Rudolf Burger: Eine zentrale Parole der „Uni brennt“-Bewegung war „Bildung statt Ausbildung“. Eine auf den ersten Blick vielleicht plumpe Frage: Würden Sie sagen, die Universitäten sind Bildungsstätten oder Ausbildungsstätten?

Karlheinz Töchterle: Ich konstatiere an der Uni eine Sehnsucht nach Bildung anstelle von Ausbildung. Genährt wird sie durch den Bologna-Prozess, bei dem viele das Gefühl haben, mittels Kurzstudium um die wahre Universität betrogen zu werden. Tatsache ist aber, dass die Universität alten Zuschnitts immer auch eine Ausbildungsstätte gewesen ist. Die drei höheren Fakultäten waren Ausbildungsinstitutionen – zum Arzt, zum Priester und zum Juristen. Erst mit Kant, Schleiermacher und Humboldt ist die Artistenfakultät zur philosophischen geadelt und von der Dienerin zur Herrin geworden. Erst dort ist ein ganz anderer Bildungsbegriff in die Uni gekommen. Für mich war faszinierend, dass die „Uni brennt“-Bewegung genau diesen Aspekt so betont und ersehnt hat. Ich vermute, dass die Sehnsucht nach dieser tiefen, umfassenden und wirklich zweckfreien, individuellen Bildung, dass diese Sehnsucht früher stark vom humanistischen Gymnasium gestillt wurde. Erst mit der immer stärkeren Fokussierung der Sekundarschule auf Zwecke – Einführung von EDV, Fremdsprachen, um zu kommunizieren – hat sich plötzlich die Sehnsucht nach Bildung in die Uni verschoben. Jetzt werden der Universität Dinge überantwortet, für die sie nie konzipiert und gedacht war. Eigentlich ist der Ort der Bildung in der modernen europäischen Schule die Sekundarstufe.

Burger: Das Erstaunliche ist, dass dieses Einklagen eines Bildungsauftrages für die Unis im Namen der humboldtschen Ideale vorgetragen wird. Genau das halte ich für historisch falsch. Die alten Parolen, die heute vorgetragen werden – Einheit von Lehre und Forschung –, die sind durch die humboldtschen Schriften gar nicht gedeckt. Die Unis waren immer Ausbildungsstätten, die auf einen Bildungsfundus aufgebaut haben.

Töchterle: Man könnte sagen, sie waren Spezialbildungsstätten.

Burger: Auch was die Rolle des Gymnasiums anlangt, wäre ich vorsichtig. Bereits im 19. Jahrhundert wurden hier sehr viele soziale Distinktionsmechanismen aufgebaut, die ideologisiert wurden. Schon im 19. Jahrhundert war vom Niedergang des humanistischen Gymnasiums die Rede. Das ging im 20. Jahrhundert einher mit einer massiven Kritik an der philosophischen Fakultät, die sich selbst zur Herrscherin der Universität gekrönt hatte. Die Philosophie wollte den Eindruck erwecken, eine Einheitlichkeit des Weltbildes und des Denkens vermitteln zu können. Das ist, denke ich, eine Illusion. Auch heute wird von der akademischen Philosophie beansprucht, die Grundlagen – die epistemologischen und gnoseologischen – für die einzelnen Wissenschaften zu liefern. Betrachtet man die jüngere Wissenschaftsgeschichte, sieht man aber, dass sich die jeweiligen Disziplinen – insbesondere die Physik – ihre Grundlagenkrisen sehr kompetent untereinander ausgemacht haben und eigentlich kaum bei der Philosophie nachgefragt haben, wie sie ihre Grundlagenkrisen lösen könnten. Ich wüsste zum Beispiel keine große Erschütterung in der Philosophie durch die dramatische Veränderung der Raum-Zeit-Metrik durch die Relativitätstheorie. Auch die Auswirkungen, die die Quantenphysik auf das deterministische Weltbild hatte, haben sich Physiker durchaus untereinander ausgemacht. Und nicht die philosophischen Lehrstühle in Göttingen. Dieser Anspruch der Philosophie auf Integrationsleistung und auf Grundlegung ist durch die atemberaubende disziplinäre Entwicklung also massiv infrage gestellt.

Töchterle: Ich gebe ihnen recht. Ich spüre dennoch Ihrem Vorwurf von der Entleerung des humanistischen Gymnasiums nach. Das Gymnasium ist aus dem Schwung des Neuhumanismus entstanden, der in Deutschland auch ein gräkomanischer war, also eine Idealisierung der Griechen. Bald nach Humboldt ist das Gymnasium, sagen wir es in aller Härte, zwar einfach wieder zur Lateinschule degradiert worden. Und dennoch: Diese Schule hat die deutsche Wissenschaft hervorgebracht, die bis zur Katastrophe des Nationalsozialismus, oder zumindest bis zum Ersten Weltkrieg, Weltgeltung hatte. Das Erstaunliche ist Folgendes: Dieser Neuhumanismus hat ein Gymnasium kreiert, dass relativ bald – schon im Vormärz – zur Disziplinierung missbraucht wurde. Ich denke, dass dieses Gymnasium damit zwar nicht den Anspruch erfüllen konnte, den es erfüllen wollte, aber dennoch sehr erfolgreich war.

Burger: Dennoch verbindet man heute mit dem Begriff Bildung, der – trotz aller Verfallserscheinungen – immer noch mit humanistischer Bildung identifiziert wird, auch so was wie eine moralische Veredlung des bürgerlichen Individuums. Die Hoffnungen, die immer wieder auftauchen, sind – das beginnt schon bei Schillers ästhetischer Erziehung -, dass Bildung auch zu einer moralischen Verbesserung des Menschen führe. Und das hat heute seine Schrumpfform im Plädoyer für den Ethikunterricht erreicht. Aber das wirklich Erschreckende ist – wie Sie mit Recht gesagt haben –, dass Deutschland vor 1933 die besten humanistischen Gymnasien der Welt hatte und die Eliten des Nationalsozialismus sich ganz wesentlich aus diesen Gymnasien rekrutiert haben. Daher bin ich skeptisch, ob der gebildete Mensch, der musische, kunstsinnige Mensch auch der bessere Mensch ist. Die musische, die humanistische Bildung immunisiert in keiner Weise vor Barbarei. Hitler war ein sehr kunstsinniger Mensch. Dass die Bildung den Menschen veredelt, ist nicht wahr. Auch die Dummheit ist ein Sozialprodukt. Auch sie ist institutionell erzeugt. Die großen Verbrechen der Geschichte wurden nicht von Ungebildeten programmatisch formuliert. Das waren sehr große Denker. Der Rassismus ist zuerst nicht als amoralische Geste aufgetreten – sondern in Form einer wissenschaftlichen Theorie, die sehr viele Anhänger hatte.


Töchterle
: Ich glaube, die Hoffnung, dass humanistische Bildung „gut machend“ wirkt, hat viele Quellen, vor allem Sokrates. Die humanistische Bildung ist ja eng gesehen eine, die sich an den „Studia humaniora“ orientiert, und damit ist immer auch ein sozialer Aspekt verbunden gewesen. Das war immer etwas Elitäres, etwas für höhere Schichten. Zweitens schwingt natürlich der Begriff „human“ mit, aber das bedeutet es nicht: Humanistische Bildung heißt eigentlich Bildung mithilfe antiker Gegenstände. Nur wir verbinden heute damit immer die Humanitas als allgemeine Menschlichkeit – und dadurch kriegt das Ganze eine ganz andere Konnotation. Wir definieren diesen Begriff viel weiter, als er eigentlich gedacht ist. Aber ich will die Frage, ob Bildung etwas bewirken kann, nicht nur mit Skepsis beantworten. Wenn es überhaupt eine Hoffnung gibt, dann kann es doch nur die auf Bildung sein. In irgendeiner Weise.

Burger:Was häufig diskutiert wird, ist die Einführung des Ethikunterrichts. Mein Problem ist: Ethik wird dabei oft als Ersatz für Religionsunterricht vorgeschlagen – für die agnostischen und atheistischen Kinder, die mit säkularer Moral konfrontiert werden sollen. Ich würde mich als gläubiger Mensch, der ich nicht bin, gekränkt fühlen. Religion ist mehr als Ethik, ist mehr als Indoktrination von Moral. Wenn man Ethik als Ersatz für einen Religionsunterricht ansieht, hat man von vornherein ein ontologisch entkerntes Religionsbild. Da geht es nicht mehr um Wahrheiten, sondern nur noch um deskriptive Aussagen und Verhaltensregeln. Meine Befürchtung ist folgende: Wenn man Ethikunterricht ernsthaft betreibt und zuerst einmal versucht, historisch zu rekonstruieren, wie Moralsysteme entstanden sind, wie sie kodifiziert und hypostasiert wurden in den Religionssystemen und wie dann diese Systeme auch wieder dekonstruiert worden sind, dann kommt man letztlich zu Nietzsches Genealogie der Moral. Und was dann bleibt, ist eine nihilistische Weltsicht.

Töchterle: Oder zumindest Relativismus.

Burger: Der Relativismus ist ja nur das letzte Basislager, bevor man den Gipfel des Nihilismus erreicht. Ethik ist ein sehr gefährliches Unternehmen. Wie Denken überhaupt gefährlich ist, das ist ein Wort von Paul Valéry: „Denken ist brutal. Es gibt nichts Brutaleres als einen Gedanken.“ Was man hingegen an den Schulen machen könnte, wäre, einen quasi-ethnologischen Blick auf das moralische Gelände werfen und das auch in Mittelschulen unterrichten. Gerade in einer Zeit mit einem sehr großen Anteil an Schülern, die aus anderen Kulturkreisen kommen. Aber nicht eine normative Ethik.

Töchterle: Ich denke, Moral- oder Ethikunterricht muss heute wohl – und das klingt vielleicht trivial – unsere Verantwortlichkeit für die Mit- und die Nachwelt aufzeigen. Man muss uns zeigen, wie unser Handeln sich heute in der Welt auswirkt und wie es sich für künftige Generationen auswirken wird. Das würde mir schon fast reichen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir eigentlich genug zu tun. Sie haben aber natürlich recht, das kann nie Religionsersatz sein. Dennoch denke ich, dass die immer stärker säkularisierte Gesellschaft irgendwelchen Ersatz braucht. Denken Sie nicht?

Burger: Ich finde nicht. Um es paradox zu formulieren: Die Überwindungen sind allemal schlimmer als das Überwundene. Die großen Verbrechen in der Geschichte, die wurden – soweit ich das sehe – niemals von Skeptikern begangen. Sondern von Idealisten in Folge von Religionsstiftungen, in Folge des Aufbaus großer Moralsysteme. Für die Zukunft würde ich mir also die Einübung in ungesicherte Diesseitigkeit als Bildungsziel wünschen. Wichtig sind auch die sozialen Naheverhältnisse. Denn ein radikaler Skeptiker, der nicht an das Fortleben nach dem Tode glaubt, muss konsequenterweise der Meinung sein: Wenn ich tot bin, bin ich nicht nur nicht mehr, sondern dann werde ich auch nie gewesen sein! Das ist ein sehr erschreckender Gedanke, aber die eisige Konsequenz des Nihilismus. Denn so ein Mensch handelt nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Jemand, der Kinder hat, wird das schon anders beurteilen.

Töchterle: Ich habe vier Enkelkinder und mache mir ein bisschen Sorgen um das, was in den nächsten Generationen passiert.

Burger: Ich habe zwar nicht vier Enkelkinder, aber mir geht es ähnlich. Und das ist der Anknüpfungspunkt. Wir müssen darauf vertrauen, dass es so etwas wie Empathie gibt. Etwas wie Liebe zu Einzelnen, den Kindern oder Enkelkindern vielleicht. Und von dort aus kann sich dann alles weiter verbreiten. Und das ist eigentlich alles.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2011)

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