„Nichts über uns ohne uns“

Auf die Fähigkeiten, nicht auf die Defizite zu fokussieren, ist ein wesentlicher Grundsatz der Inklusiven Bildung.
Auf die Fähigkeiten, nicht auf die Defizite zu fokussieren, ist ein wesentlicher Grundsatz der Inklusiven Bildung. (c) Olesia Bilkei - stock.adobe.com
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Inklusion. Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf bestmögliche Bildung. Diese ihren Bedürfnissen gemäß zu vermitteln, ist Gegenstand pädagogischer Spezialstudien.

Geschätzte 650 Millionen Menschen mit Behinderungen gibt es weltweit. Die UN-Behindertenrechtskonvention war das erste universelle Rechtsinstrument, das bestehende Menschenrechte, bezogen auf die Lebenssituation behinderter Menschen, konkretisierte. „Lange vor den ersten Studiengängen mit Schwerpunkt Inklusion hat sich an der Universität Innsbruck Volker Schönwiese dieses Themas angenommen“, verweist Lisa Pfahl, Professorin für Disability Studies am dortigen Institut für Erziehungswissenschaften, auf die Tradition des Themas an der Uni Innsbruck. Im Rahmen des Masterstudiums Erziehungs- und Bildungswissenschaft, das auch Quereinsteiger aus den Fächern Psychologie, Soziologie oder Gender Studies belegen können, besteht die Möglichkeit einer Vertiefung in Ungleichheit und Inklusion in Bildung, Kindheit und Familie. „Unser Ansatz stammt aus der Behindertenbewegung. Deren Motto lautete ,Nichts über uns ohne uns‘“, erläutert Pfahl.

Über medizinische Betrachtung hinaus

Die Themen, mit denen sich die Wahlmodule beschäftigen, reichen von Methoden der Ungleichheits-, Inklusions- und Kindheitsforschung über Vielfalt in Kindheit und Pädagogik bis zum Wandel von Kindheit, Familie und Elternschaft. „Wir betrachten Behinderung aus einer sozialen Perspektive, die sich von der rein medizinischen Sicht auf Beeinträchtigung unterscheidet und das Umfeld und dessen Umgang mit Vielfalt berücksichtigt“, erklärt Pfahl.

Seit 2008 gibt es am Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien ebenfalls einen Schwerpunkt Inklusive Pädagogik, der anstatt eines Zweitfachs im Lehramtsstudium oder als weiterführendes Masterstudium nach dem Abschluss gewählt werden kann. Vermittelt wird dabei unter anderem Pädagogik bei kultureller Verschiedenheit und sozialer Benachteiligung oder Diagnostik, Rehabilitation und Therapie bei speziellem Erziehungs-, Bildungs- und Hilfebedarf: „Diagnostik wird beispielsweise im Lernkontext insofern angewandt, dass man überprüft, was im Umfeld beeinträchtigt. Und man analysiert die Fähigkeiten statt die Defizite“, erklärt Helga Fasching, Mitglied der Studienprogrammleitung. Die meisten Masterstudierenden kommen mit einem Pädagogik- oder Bildungswissenschaft-Bachelor. Möglich ist der Einstieg auch für Absolventen von „Soziale Arbeit“-Studiengängen. Sie müssen allerdings Grundlagen der Bildungswissenschaft im Umfang von 30 ECTS-Punkten nachholen.

Mensch im Mittelpunkt

Einen Master Inklusive Bildung bietet seit 2011 auch die Universität Graz. Er beschäftigt sich mit Wissenschaft und praktischer Anwendung von Inklusion im Bereich der Erziehung und Bildung von Menschen mit Behinderung, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen oder Erziehungsproblemen sowie von Benachteiligung in gemeinsamen Lern-, Arbeits- und Lebenssituationen. Drei Aspekte werden in dem modular strukturierten Studium besonders betont: Theorie-, Forschungs- und Handlungsorientierung. „Wichtig ist uns, dass der Mensch im Vordergrund steht und nicht seine Behinderung“, sagt Barbara Gasteiger-Klicpera, Dekanin der Umwelt-, Regional- und bildungswissenschaftlichen Fakultät. Diversität gehöre heute zum Alltag. „Unseren Studierenden ist bewusst, dass Inklusion eine Weiterentwicklung von Strukturen und Prozessen bedeutet. Entsprechend wollen sie auch Verantwortung übernehmen.“ Zugelassen sind Pädagogik-Bachelors, aber auch solche aus den Bereichen Soziologie und Psychologie. Nach vier Semestern sollen die Absolventen nicht nur über eine breite allgemeine Bildung in der Pädagogik verfügen, sondern auch spezialisierte Kenntnisse und Fertigkeiten haben, um Fragen, Konzepte und Probleme der inklusiven Pädagogik analysieren und adäquate Lösungsvorschläge für die Praxis erstellen zu können. „Viele Einrichtungen fragen nach unseren Absolventen, weil die Kompetenzbündelung zu konzeptionellem Arbeiten befähigt. Das brauchen NGO ebenso wie beispielsweise die Lebenshilfe oder Einrichtungen, die persönliche Assistenz oder Förderung für Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen anbieten“, erläutert Gasteiger-Klicpera. Ähnlich ist es an der Uni Wien: „Die Absolventen mit Schwerpunkt Inklusive Bildung haben eine hohe Employability“, sagt Fasching. Nur wenige bleiben in der Forschung; die meisten bekommen Jobs in pädagogischen Arbeitsfeldern wie der Frühförderung oder bei Institutionen, die am Übergang zwischen Schule und Beruf angesiedelt sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2018)

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