Jahreszahlen googeln, Algorithmen verstehen

Die Digitalisierung verändert, was wir wissen müssen und wie wir dieses Wissen erwerben. Dass der Mensch gar nicht mehr denken muss, ist aber nicht zu erwarten.
Die Digitalisierung verändert, was wir wissen müssen und wie wir dieses Wissen erwerben. Dass der Mensch gar nicht mehr denken muss, ist aber nicht zu erwarten.imago/Tim Wagner
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Die ewige Diskussion, was Schüler und Studenten wissen müssen, wird durch die Möglichkeiten der Digitalisierung neu befeuert.

Die Diskussionen darüber, ob etwa Differenzieren und Integrieren zur Allgemeinbildung gehören oder schon Spezialwissen für Wissenschaftler und Ingenieure ist oder ob Latein noch zeitgemäß ist oder ob man Jahreszahlen auswendig lernen muss, sind wohl so alt wie die Institution Schule selbst. Heute, in Zeiten von Wikipedia, wird sie noch verschärft – wer muss schon etwas lernen, wenn man es auch googeln kann? Gleichzeitig wächst der Wissensberg ins schier Unermessliche. Das gesamte Wissen der Menschheit verdoppelt sich heute bereits innerhalb weniger Jahre – und dieser Zeitraum wird immer kürzer.

Kein Entweder-oder

Dennoch ist die Frage von universellem versus Spezialwissen für den Bildungsexperten Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, kein Entweder-oder. Dräger möchte beides, aber differenziert: Breite Grundbildung für alle und Spezialisierung für einige. „Es kann nicht jeder Wissenschaftler werden.“ Unbestritten ist für Dräger der Stellenwert des Wissens. Allerdings trete das Faktenwissen in den Hintergrund. Dies sei heute anders verfügbar. Entscheidend sei, das Lernen zu lernen, also die Fähigkeit, sich selbst etwas beizubringen. Dies müsse bereits in der Schule geschehen. Allerdings brauche es dazu ein Grundgerüst. „Wenn ich nichts weiß, kann ich Neues nicht bewerten und einordnen.“ Christa Schnabl, Vizerektorin für Lehre und Studium der Uni Wien und Mitglied des Forum Lehre der Uniko, spricht in diesem Zusammenhang von einem Koordinatensystem, in dem neues Wissen „eingehängt“ wird. Für die Vizerektorin hat Universität die Aufgabe, Bildung im breiteren Sinn zu vermitteln, aber in der jeweiligen Fachrichtung – alle Disziplinen überblicken zu wollen, sei heute illusorisch. Innerhalb des jeweiligen Fachs werde eine gewisse Breite vermittelt, zudem gebe es „exemplarische Tiefenbohrungen“. Erst diese detaillierte Auseinandersetzung mit Spezialfragen würde die Komplexität der Zusammenhänge sichtbar machen. Dies diene wiederum der Breite. „Breite und Tiefe sind also keine Gegensätze, sondern bedingen einander“, sagt Schnabl.

Neben „Wissen wissen“, was bedeutet, die verfügbaren Quellen kennen und nutzen zu können und „Lernen lernen“, also der Fähigkeit, sich Dinge selbstständig anzueignen, ist laut Dräger „Kenner kennen“ eine in Zukunft besonders gefragte Kompetenz. Gemeint ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Die Probleme sind heute zu komplex für den Einzelnen, man muss sich interdisziplinär vernetzen“, sagt Dräger. Nachsatz: „Diese Kompetenz erwirbt man aber nicht dadurch, dass man im Unterricht davon erzählt bekommt.“ Der Experte kritisiert, dass in der Schule immer noch in der Benotung auf die Einzelleistung fokussiert wird, während in der Arbeitswelt Teamleistungen zählen.

Ein Problem ortet Dräger auch in dem Umstand, dass Spezialisierung im Wissen mit einer Spezialisierung in der Sprache einhergehe. Zudem würde komplexe Ausdrucksweise als Zeichen von Bildung gewertet. „Einfachheit gilt nicht als Kunst“, kritisiert Dräger. Man müsse früh und kontinuierlich Kommunikation in der Wissenschaft üben. Hier geht Stefan Thurner, habilitierter Physiker, studierter Betriebswirt und Wissenschaftler des Jahres, noch weiter. In seinem aktuellen Feld, der Komplexitätsforschung, arbeiten Spezialisten verschiedenster Disziplinen, neben Mathematikern und Statistikern auch Evolutionsforscher und Soziologen. Seiner Meinung nach genügt es nicht, wenn Experten verschiedener Fachrichtungen nur miteinander kommunizieren. Es müssten auch zwei Disziplinen in einem Kopf vereinigt werden. „Wenn dann zwei so interdisziplinär Denkende zusammenkommen, dann gibt es gute Chancen für echt disruptive Innovationen“, so der Wissenschaftler. Einig sind sich die Befragten, dass es immer fundiertes Fachwissen braucht.

Ebenfalls kaum bestritten ist, dass die Curricula in Schule und Uni von Zeit zu Zeit hinterfragt werden müssen. „Jedes Fach muss sich immer wieder neu buchstabieren“, sagt Schnabl. „Gewisse Wissensbestände bleiben zwar gültig, aber die Gewichtung und Bedeutung sind immer wieder neu zu definieren“, sagt die Expertin. Dies gelte unabhängig von der Digitalisierung. Auch Dräger sieht die Notwendigkeit, Curricula zu entrümpeln. Um zu entscheiden, welche konkreten Inhalte zeitgemäß sind und welche nicht, gäbe es aber keine pauschalen Rezepte. Wie Schnabl will Dräger diese Frage den Experten des jeweiligen Fachs überlassen. Für Thurnher sollten sich die zu vermittelnden Grundskills an den Herausforderungen der Zukunft orientieren. Als Beispiele nennt er den ökologischen Grundgedanken von der Endlichkeit der Ressourcen oder das Erkennen von Fake News.

Incentives für Kreativität

Sonst müssen die Schulen vor allem Freude am Lernen vermitteln, meint Schnabl. Thurnher ergänzt, dass es insbesondere schon im frühem Alter Incentives für kreative Ideen geben sollte – auch für verrückte. „Der Wille zu Neuem gehört belohnt“, meint der Wissenschaftler des Jahres, der auch in der Forschung den Trend kritisiert, eher an vorhersehbaren Weiterentwicklungen als an wirklich Neuem zu arbeiten. „Und die Universitäten bilden für diese Forschung aus.“

Bezüglich Digitalisierung und den damit verbundenen neuen Möglichkeiten steht für Schnabl fest, dass sich die Kreation, der Abruf und die Dokumentation von Wissen stark verändern werden. Wohin die Reise schließlich geht, sei noch nicht absehbar. „Die Digitalisierung ist eine gesellschaftliche Herausforderung, der sich viele Institutionen stellen müssen, auch die Universität“, sagt die Vizerektorin. Dafür gebe es keine Patentrezepte, wichtig sei, aufmerksam zu sein, damit die Menschen handlungsfähig bleiben.

Für Thurnher, der damit Konzepte der Physik auf verschiedenste Systeme anwendet, sind Big Data und die damit mögliche Analyse von interaktiven Netzwerken die Werkzeuge des 21. Jahrhunderts, die entsprechend jeder beherrschen sollte. „Allerdings nicht in einer naiven Form“, mahnt der Komplexitätsforscher. „Machine learning nimmt uns nicht das Denken ab!“

Die Forderung, das Wissen um Algorithmen zum Allgemeingut zu machen, unterstützt auch Dräger. In einer Welt, die zunehmend von Algorithmen gesteuert wird, sei es unerlässlich, deren Arbeitsweise zu verstehen. Dies helfe auch, Ängste abzubauen. „Entmystifizierung war immer schon eine Aufgabe des Bildungssystems“, sagt Dräger und zieht Parallelen zwischen den heutigen Algorithmen und den Schamanen von einst. Dass der Einsatz digitaler Hilfsmittel eine Art „digitaler Demenz“ begünstigt, glaubt Dräger nicht. Auch wenn heute vielfach Maschinen die schweren Arbeiten übernehmen, seien die Muskeln der Menschen nicht degeneriert. Man geht ins Fitnesscenter. Analog werde man sich in Zukunft geistig fit halten. „Bildung dient in wohlhabenden Gesellschaften auch der Persönlichkeitsentfaltung. Ich bin optimistisch, dass das auch in Zukunft der Fall sein wird.“

Wissen

Der Begriff Algorithmus kommt aus der Mathematik und steht für ein Schema, das durch (endlich oft) wiederholte Anwendung von Schritten zu einer Lösung führt. In der Informatik bezeichnet Algorithmus den von der Programmiersprache abstrahierten Programmablauf. Selbstlernende Algorithmen können sich über eine Feedback-Schleife selbst adaptieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2018)

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