Brunnenviertel: Der Hype geht, helal bleibt

Das Brunnenviertel im 16. Bezirk stellt sich der Gentrifizierung wie eh und je: unaufgeregt gewinnorientiert, genussfreudig und mit der Armut im Hinterhof.

Wir sind in die Welt gevögelt, und können nicht fliegen. Werner Schwab, III. Stock, Tür 18, 1990–1991.“ Unscheinbar sitzt die Tafel mit dem Zitat auf Hausnummer 12 in der Payergasse beim Yppenplatz. So unorthodox die Worte, so sehr entsprechen sie dem Charme des Viertels. Bio-Obst neben Billigstklamotten, Kunst neben Ramsch, Dinks neben verschleierten Frauen und Männern mit Turban. Bettler ohne Beine neben Bobos, die „nur helal“ essen, weil dieses Fleisch am histaminärmsten sein soll. Und prestigeträchtige Dachausbauten über finsteren Kategorie- D-Wohnungen in einem Haus: „So etwas wird kaum mehr vorkommen“, meint Martin Müller, Geschäftsführer der JP Immobilien. „Die neuen Bestimmungen zum Erdbebenschutz machen es aus statischen Gründen nahezu unmöglich, auf bereits parifizierten Häusern das Dachgeschoß groß auszubauen.“ Die Substanz vieler alter Häuser sei hier schlechter als in anderen Bezirken, daher wären in Zukunft Neubauten oder Sockelsanierungen angesagt, meint Müller. Doch auch in diesem Grätzel werde es nicht so munter weitergehen wie bisher. Das liege daran, dass viele Hauseigentümer in den 1980er- und 1990er-Jahren Wohnungen „auf eigene Faust“ saniert hätten – und daher sei eine komplette Sanierung derzeit für sie uninteressant. So wurden am Yppenplatz nur in einem Bruchteil der Häuser Dachgeschoßwohnungen ausgebaut.

Verlust und Gewinn

Von der Thaliastraße zur Brunnengasse, vom Yppenplatz zur Ottakringer Straße und die Querstraßen zwischen Grundstein- und Payergasse reicht das Gebiet, über das die Gentrifizierung vor wenigen Jahren hereingebrochen ist. Interessant für Investoren wurde es durch die Ansiedlung von Kreativen und dem Kunstfestival Soho. Durch Lokale wie dem „Wetter“, dem „An-Do“, dem „Arjouna“, die das alteingesessene Café International (CI) und das renovierte Gasthaus Müller am Yppenplatz ergänzen. Und durch sanierte Häuser, „deren Wohnungen durch die Unterstützung der Stadt Wien recht günstig waren und weggingen wie die warmen Semmeln – wodurch sich die Preise kontinuierlich erhöhten“, so Müller.

Während Außenstehende gern steigende Preise und gesellschaftliche Umschichtungen thematisieren, bedeutet Gentrifizierung für die Bewohner vor allem: stetiger Verlust von Gewohntem, täglicher Gewinn von Neuem. Der Brunnenmarkt wurde saniert, die Standln werden werden nach und nach durch grüne gläserne Container ersetzt. Das bucklige Pflaster der Grundsteingasse ist frischem Asphalt gewichen, der Weg durch die Büsche zum „Chelsea“ quer über den Gürtel wurde mit Ampel und Zebrastreifen legalisiert – ungefähr an der Stelle, an der um 1800 Vogelmarkt und Zirkus gegen Hunger und Langeweile sorgten. Der Wurm-Automat am Ragnarhof für Wochenendangler ist ebenso Geschichte wie die einstige „Rote Bretze“, in der 1899 der Arbö gegründet wurde. Sie ist einem Wohnhaus mit einer Hofer-Filiale gewichen, der große Baum mit den Soho-Regenschirmen im Geäst davor wurde gefällt. Die Geräuschkulisse, das Hämmern, Bohren, Sägen in den Hinterhöfen, ist leiser geworden.

Das frühere Kaufhaus „Osei“ beherbergt nun neben Wohnungen einen Diskonter und die Polizei. Eine Tafel erzählt da: „An dieser Stelle befand sich das Warenhaus Dichter... Am 14. März 1939 wurde es von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, zwangsenteignet und arisiert... Einige Familienangehörige wurden in Konzentrationslagern ermordet. Das Gebäude wurde im April 2007 abgerissen und durch den jetzigen Wohnbau ,Dichterhof‘ ersetzt...“ Walter Arlen, dem Sohn des einstigen Besitzers, wurde noch in den 1960er-Jahren der Besuch in seinem Geburtshaus verweigert. 1999 wurden er und seine Schwester von der Stadt Wien geehrt, am Yppenplatz zwei Säulen aufgestellt als Mahnmal gegen den Nationalsozialismus. Gegen den Nationalismus, für die Toleranz.

39,5 Prozent der Bevölkerung Ottakrings haben Migrationshintergrund, um 7,4 Prozent mehr als der Wiener Durchschnitt. Besonders in Gürtelnähe ist das spürbar: Die Konfrontation mit dem jeweils Fremden ist anregend und anstrengend. Dazu kommen die Unterschiede im Haushaltseinkommen – um elf Prozent niedriger als der Wiener Schnitt, zudem recht ungleich verteilt. Reviergrenzen, Sprachgrenzen, Verständnisgrenzen prägen den Alltag.

Seit der Gründung Neulerchenfelds 1703 – viele, die durch die zweite Türkenbelagerung 1683 ihre Heimat verloren hatten, siedelten sich hier an – ist das Grätzel auch Ziel von Zuwanderern. Studenten, Handwerker und Kreative, die billige Unterkunft und inspirierende Umgebung suchten, fanden hier ebenso ihr Zuhause. Fremd sein, neu anfangen, sich verbessern, mitunter scheitern – das hat da Tradition. Und Geselligkeit: Vor dem Linienwall steuergünstig gelegen, besaß im 19. Jahrhundert fast jedes zweite Haus eine Schankgenehmigung. Von „des Heiligen Römischen Reiches größtem Wirtshaus“ war sogar die Rede. Dieses Erbe ist noch spürbar – auf dem Yppenplatz, wenn Tische im Freien stehen und der im Winter trübe Platz zur belebten Piazza wird. Und während die Kreativen genießen, dösen mitunter ein, zwei Menschen vom Rand der Gesellschaft auf dem Platz in der Sonne.

Mehr Qualität, weniger Charme

Für viele dieser Anrainer scheint ein Objekt, wie es derzeit an der Ecke Hubergasse/Ottakringer Straße errichtet wird, schwer erschwinglich. „Ab 4000 Euro/m2muss man beim Kauf einer Dachgeschoßwohnung hier rechnen, im ersten Stock sind es rund 2800 Euro“, so Müller. „In erster Reihe am Yppenplatz würde ich bei einer neuen Dachgeschoßwohung noch 300 Euro/m2 dazurechnen.“ Mittlerweile muss man für eine neue Wohnung von rund neun Euro/m2 Miete ausgehen, in oberen Geschoßen von zehn. „Doch das ist ein genereller Trend, nicht nur im Brunnenviertel. Die Gegend ist nach wie vor sehr begehrt, doch es wird schwieriger, etwas zu bekommen“, meint Müller. „Schnäppchen wird man hier keine mehr machen. Objekte, die vor fünf Jahren noch um rund 800 Euro/m2 zu bekommen waren, kosten heute 1600. Und das sind dann mitunter Bruchbuden, vor denen man interessierte Käufer eigentlich warnen muss. Erfreulicherweise lassen sich Interessenten aber viel besser beraten.“

Insgesamt halten Immobilienexperten den Boom für abflauend. Das Interesse scheint sich über die Ottakringer Straße in den 17. zu bewegen. Viele Freiräume sind verschwunden, verbaut, verloren. Die Infrastruktur hat sich verbessert, die Lebensqualität ist gestiegen. Der Alltag ist angenehmer, der Charme weniger geworden – die „Eckler“ beim Bäcker heißen nun „Eclairs“. Doch die orangefarbenen Handtücher des Herrenfriseurs trocknen immer noch auf der Straße vor dem Lokal. Und die Speisekarte im CI ist unverändert. Na ja, fast.

Brunnenmarkt & Yppenplatz

Aufwertung: Zehn Gebäudeblocks im Areal der Friedmanngasse (südlich der Ottakringer Straße) sind Teil der über 300 in Wien geplanten Blocksanierungsprojekte. Ziel ist eine gemeinsame Sanierung und Attraktivierung.
Preise:
Eigentumswohnungen im Erstbezug kosteten 2012 (Mietpreisspiegel) durchschnittlich 2790 Euro/m2, gebrauchte 1809,4 Euro/m2.
Link-Tipp: www.sohoinottakting.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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