Nordwestbahnhof: Bahnhofsreise ohne Zug

Einstmals großer Bahnhof, übermorgen Wohnviertel. Und heute? Lokalaugenschein auf dem Brigittenauer Nordwestbahnhof mit den Experten Michael Hieslmair und Michael Zinganel.

Planmäßige Züge fahren hier schon lang keine mehr. Allerdings parken sie dort: „Die Garnituren warten auf den Abtransport nach Riad“, erklärt Michael Hieslmair mit Blick auf die zahlreichen neuen S-Bahnen. Wie sie dort hinkommen werden? Vermutlich per Schiff, wie die Kräne, die bis Anfang 2017 hier auf dem ÖBB-Containerterminal im Einsatz waren.

Der Terminal wurde nach Inzersdorf verlegt, die Kräne von einem serbischen Unternehmer gekauft und verschifft. Fotos der Aktion sind im Projektraum Tracing Spaces zu sehen – dokumentiert wie vieles andere zur jüngeren und älteren Geschichte des 1873 erbauten Bahnhofs, der hier arbeitenden Menschen, der Kunstaktionen, Events und Touren. 2014 auf der Suche nach einem Raum für ihre Projekte über Knotenpunkte transnationaler Mobilität hier gelandet, begannen sich Hieslmair und Michael Zinganel, beide Künstler und Architekten, immer mehr für ihre Umgebung zu interessieren. KIR (Kunst im öffentlichen Raum) unterstützte zahlreiche Aktionen und Arbeiten diverser Künstler zum Thema „Stadt in Bewegung – Zum Abschied eines Logistikareals“. Eine Fundgrube für Interessierte der Geschichte des Nordwestbahnhofs.

Alles auf Zeit

Und die Uhr tickt: Das städtebauliche Leitbild sieht hier ein neues Stadtviertel vor, mit Tausenden Wohnungen rund um eine grüne Mitte. Auf eine gewisse Endzeitstimmung dank Brachflächen und Leerstand trifft an dem grauen Novembertag trotzdem reges Treiben. Zahlreiche Lkw ent- und beladen hier ihre Waren, Busse rangieren, ein Fahrschulauto rollt zum Übungsplatz. Die Halle der ÖBB Rail Cargo wird ebenso genutzt wie die Panalpina – die Beschriftung auf den Gebäuden und Lkw ist jedoch nicht immer auf dem neuesten Stand. Das große Areal zieht große Firmen wie den Getränkehändler Del Fabro, „der jetzt vor Weihnachten wieder mehr Hallenfläche braucht“, ebenso an wie findige Kleinunternehmer, die etwa „mit drei Baumaschinen arbeiten und hier nur Platz zum Abstellen brauchen“, so Zinganel. Hier trifft moderne Logistik auf alte Hallen und Brachflächen auf Kunst, wie Fotoposter, die mobile Wegenetzskulptur an der Ladestraße 1. Oder einen leider demontierten schmucken Bahnübergang zur nahen Hofer-Filiale durch den „Omagarten“, dessen Gartenbankerl jetzt beim nahen Würstelstand Asyl gefunden hat. Lkw-Logistik, Übungsplatz für die Fahrschule Wien West, Speditionen, Busparkplatz, ÖBB-Logistikbüro, Filmausstatter Props und Co., Promotionsfirmen, Kleingärten, . . . – das Gelände wird vielfältig genutzt.

1873 im Zuge der Donauregulierung in Fluss- und „Kühlhausviertel“-Nähe als großer, repräsentativer Bahnhof für Güter und Personen mit den Hauptdestinationen Znaim, Berlin oder Hamburg gebaut und (wie der Nordbahnhof) mit einer eigenen Donaubrücke bedacht, büßte er schon 45 Jahre später mit Beendigung der Monarchie seine Bedeutung ein.

Schneepalast und Bananen

1927 wurde die große Halle umfunktioniert: als Skihalle mit Sprungschanze und Seillift. Der Schnee wurde, praktisch an einem Bahnhof, per Waggon aus Niederösterreich angeliefert. 1934 diente der Raum zur Versammlung von Austrofaschisten, später hielt Göring hier eine Rede, die nationalsozialistische Wanderausstellung „Der ewige Jude“ fand, auch per Zug geliefert, hier Platz.

Nach dem Krieg wurde das Hauptgebäude abgetragen, der Zugverkehr mit dem nahen Nordbahnhof (dessen Brücke gesprengt worden war) per „Russenschleife“ (652 m Schienen quer über die Einmündung der Taborstraße in die Nordbahnstraße) bis 1959 vernetzt. Bis dahin war auch der Personenverkehr abgewickelt, der Ausbau zum Warenumschlagplatz begann.

Nur die Bahnpost und einige einzigartige Hallen blieben bestehen, über deren Integration in den neuen Stadtteil diskutiert wird, „wobei die Post sicher erhalten bleibt“, meint Hieslmair. Erhalten blieb Wien auch vieles, was einst über den Bahnhof ins Land kam: die Firma Nordsee etwa, die aus Hamburg stammend um 1900 hier ihre erste Fischhalle baute. Oder die Lust auf Bananen, die ebenfalls erstmals über den Nordwestbahnhof in Wien einlangten.

ZUM ORT, ZUR PERSON

1873 erbaut, verlor der zweitgrößte Bahnhof Wiens durch die Auflösung der Monarchie massiv an Bedeutung. Der Personenverkehr wurde eingestellt, in den 1970ern wurde er zum Güterterminal ausgebaut, das 2017 nach Inzersdorf verlegt wurde. Laut städtebaulichem Leitbild soll er ab 2020 einem neuen Wohnviertel mit grüner Mitte weichen.

Michael Hieslmair und Michael Zinganel

gründeten 2012tracingspaces.net. Zu sehen im Projektraum Ladestraße 1.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2017)

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