Magersucht

"Alles war extremer": Der Weg einer Wienerin aus der Essstörung

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Der Mangel an krankenkassenfinanzierten Psychotherapieplätzen in Wien erschwert oftmals Menschen die Suche nach Hilfe. Vor allem für junge Betroffene ist es oft nicht möglich, eine private Psychotherapie finanziell zu stemmen. von Lena Hemetsberger

400 Kalorien - und keine mehr, nahm Sarah pro Tag zu sich.

"Ich weiß noch, mir war immer kalt, von innen und von außen kalt. Man sag ja, jeder hat so ein Feuer in sich, eine Art Energie, bei mir war das aus. Wenn ich auf der Straße gegangen bin, hab ich das Gefühl gehabt, ich werde nicht wahrgenommen, wie ein Gespenst." Sarah, 28, litt jahrelang unter einer Essstörung. 200.000 Österreicher sind laut Gesundheitsministerium einmal in ihrem Leben von diesem Krankheitsbild betroffen. Oft beginnt es harmlos, mit zwei Freundinnen, die gemeinsam abnehmen wollen. Bei Sarah war es der Umgang mit ihren alkoholkranken Eltern. So lange sie sich auf das Essen und Nicht-Essen konzentrierte, so lange traten die Probleme in den Hintergrund. Dann aber, als sie auszieht, bricht alles über ihr zusammen. Sie isst weniger als 400 Kalorien am Tag, zieht sich immer mehr zurück. Schließlich gesteht sie sich ein, dass sie Hilfe braucht.

Kein Diätwahn, sondern psychologischer Ernstfall

Seit 2001 werden jährlich um die 2000 Personen im Jahr verzeichnet, die wegen der Diagnose Essstörung (unterschieden werden die klassische Magersucht, die Bulimie, die Ess-Brech-Sucht und die atypischen Essstörungen) einen Spitalsaufenthalt benötigten - wobei dies nur jene Extremfälle abbildet, die stationär aufgenommen wurden. Die größte Gruppe bilden hier junge Frauen im Alter von 15 bis 19 Jahren.

In der gesellschaftlichen Diskussion werden Essstörungen allzu oft halbherzig als übertriebener Diätwahn abgetan. tatsächlich sind sie meist ein Symptom einer viel tiefergehenden psychologischen Problematik. Junge Menschen sehen im Abnehmen eine Möglichkeit, Kontrolle über einen Aspekt ihres Lebens zu gewinnen, es sind "Erfolgserlebnisse", während andere Lebensbereiche negativ konnotiert sind. 

Auch Sarah fand schließlich Hilfe in jenem Krankenhaus, das sie heute noch als "kleines Zuhause aus Watte" bezeichnet. Im sechsten Bezirk betreibt das Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien die III. Medizinische Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik. Hier werden Menschen behandelt, deren psychische Krankheiten körperliche Auswirkungen haben. Sarah wurde aufgrund ihres schlechten Zustandes stationär aufgenommen. Da sie stabil genug war, konnte sie an dem dort angebotenen achtwöchigen Therapieprogramm teilnehmen. Damit begann für sie eine Zeit intensiver Psychotherapie, ärztlicher Betreuung, der Arbeit mit sich selbst und mit anderen kranken Menschen.

Erster Schritt: Überleben sicherstellen

Nicht bei allen Patienten ist jedoch die Eingliederung in das achtwöchige Intensivtherapie-Programm dieser Station ohne weiteres möglich. Alwin Hockl, der ärztliche Leiter der dortigen stationären und tagesklinischen Programme, muss mit seinen Kollegen für jeden Patienten das richtige Behandlungsformat finden. Denn Personen, die sich bereits in einem sehr stark untergewichtigen Stadium befinden, müssen zuerst medizinisch versorgt und ihr Überleben gesichert werden. "In einem besonders kritischen Zustand geht es da erst einmal darum, dass bei diesen Menschen keine schweren medizinischen Komplikationen auftreten", betont Hockl.

Sarahs Body Mass Index (BMI) lag bei der Aufnahme bei 14,7. In anderen Worten: Mit ihren 45 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,75 Meter war sie bereits im stark untergewichtigen Bereich, musste aber noch nicht künstlich ernährt werden. Zum Vergleich: Das Normalgewicht liegt bei jungen Frauen zwischen einem BMI von 18,5 und 25.

Obwohl Sarah bereits stark untergewichtig war, traf sie auf der Station immer wieder Frauen, die weitaus dünner waren als sie. Mit einem Schlauch in der Nase, der zu einem Tropf mit Flüssignahrung führt, tauchten sie an den Türen der Krankenzimmer auf. "Ich hab, bevor ich dort war, noch nie so dünne Menschen gesehen, obwohl ich selber auch sehr abgemagert war", erzählt Sarah heute. "Es hat mich erinnert an diese Bilder, die wir in der Schule gesehen haben, von Leuten in KZs."

Body Mass Index

Der BMI errechnet sich aus Körpermasse (in Kilogramm) durch Körpergröße (in Metern) zum Quadrat. Es handelt sich nur um einen Richtwert.

Auch für das Team aus Ärzten, Therapeuten und Diätologen stellen die Extremfälle eine Herausforderung dar. "Das Bewusstsein für die Erkrankung ist bei Essstörungspatienten nicht überall gegeben. Daher ist es wichtig, große Erfahrung und Kompetenz in der Zusammenarbeit mit den Patienten zu haben", sagt Hockl.

Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass durch den starken Abmagerungsgrad und das Hungern die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen eingeschränkt werden. Es ist für jemanden, der kaum etwas zu sich nimmt, nur noch schwer möglich, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, die Dramatik der eigenen Situation zu erkennen oder sich in Therapiesitzungen zu konzentrieren. Davon weiß auch Sarah zu berichten: "Ich weiß noch, ich bin damals am ersten Tag in den Gruppentherapieraum rein und da saßen schon zwei andere magersüchtige Frauen und ich hab mir gedacht: 'Na wenn das die Therapeuten sind, kann ich gleich wieder gehen.'"

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Nach der Beendigung eines Therapieprogramms wird mit den Patienten besprochen, wie es weitergehen soll. Manchmal gibt es Personen, die schon frühzeitig die Behandlung abbrechen wollen, da sei das Team besonders bemüht, sie zu halten, so Hockl. "Unser Ziel ist eine Besserung des Zustandes, sodass der Alltag wieder alleine bewältigt werden kann."

Unabdingbar, so der Experte, ist nach dem Krankenhausaufenthal eine medizinische und psychotherapeutische Nachbehandlung, um einen Rückfall zu verhindern. Hockl: "Hier sind ambulante Einrichtungen, wie 'sowhat', ganz wichtig."

Hilfe ab einem BMI von 14,5

Das Ambulatorium sowhat ist als Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen die wohl bekannteste und größte Anlaufstelle in Wien. In St. Pölten und Mödling gibt es weitere Niederlassungen. Sowhat hat mit bis zu 1000 Patientenkontakten pro Jahr und über 300 Personen in Behandlung ein vergleichsweise großes Programm. Das Angebot wird von den Gebietskrankenkassen und anderen Kassen übernommen und ist somit vor allem für junge und finanzschwache Menschen eine gute Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Angeboten werden wöchentlich eine Einzeltherapie und unterstützende Gruppentherapie, sowie Ernährungsberatungen und Entspannungsgruppen an. Um bei sowhat einen Platz zu bekommen, muss der BMI mindestens 14,5 betragen, also im stabilen Bereich liegen.

Für die Therapieplätze gibt es in Niederösterreich und Wien eine Wartezeit von wenigen Wochen. In der Regel gewährt die Kassa - abhängig vom konkreten Bedarf und Standort - zwischen acht und zwölf Quartalen Therapie. Während der Behandlung arbeiten bei sowhat mehrere Experten interdisziplinär zusammen, um Patienten ganzheitlich zu betreuen. "Sehr häufig haben die Patienten körperliche Störungen, die dann gleich hier bei uns behandelt werden. Zusätzlich erfolgt eine psychiatrische Untersuchung, insbesondere dann, wenn es Hinweise auf Angststörungen oder eine schwerere Depression, als sie üblicherweise bei den Essstörungen vorkommt, gibt. Auch starke Stimmungsschwankungen oder schwere Ess-Brech-Anfälle, die mehrmals pro Tag auftreten, werden psychiatrisch genauer untersucht", erläutert Christine Tretter, die ärztliche Direktorin von sowhat. In diesen Fällen sei es auch sinnvoll, mit entsprechenden Psychopharmaka zu arbeiten.

Außerdem, so Tretter, ist die Früherkennung essentiell. Denn je früher eine Essstörung behandelt wird, umso größer sind die Chancen, die Person wieder vollständig davon zu heilen. Viele Patienten würden aber "lange nicht einsehen, dass sie eine krankheitswertige Störung haben; sie scheuen sich deshalb in Kliniken zu gehen", schildert die Expertin "Wenn eine Patientin Ess-Brech-Anfälle hat und nach ein paar Monaten kommt und sagt 'Irgendwie, das geht mir auf die Nerven und ich schäm mich und mir geht’s nicht gut', dann kommen wir mit dieser Therapie, die wir jetzt anbieten, meist gut aus. Hingegen bei einer anorektischen Patientin, die 15 Jahre unbehandelt unter Anorexie leidet, ist die Wiederherstellung eines gesunden Essverhaltens schwer zu erreichen."

Zwischen 60 und 150 Euro pro Therapieeinheit

Sowhat ist im Moment im Gespräch mit anderen Krankenkassen, um noch mehr Patienten helfen zu können. Aber der Bedarf auch an weniger intensiven Angeboten im niedergelassenen Bereich ist hoch. Ohne Kassenrefundierung ist eine Therapie für junge Betroffene oft nicht leistbar. Eine Therapiestunde kann zwischen 60 und 150 Euro kosten, und sollte, wenn möglich, wöchentlich besucht werden. Selbst wenn der Kassenzuschuss von 20 Euro abgezogen wird, handelt es sich immer noch um monatliche Kosten im Bereich von 300 bis 500 Euro. Für eine Studentin oder Schülerin ein laufend kaum zu bewältigender Betrag.

Von der Wiener Gebietskrankenkassa werden für ihre 1.280.000 Versicherten und deren etwa 450.000 mitversicherten Angehörigen pro Jahr etwa 15.000 kostenlose Psychotherapieplätze im niedergelassenen Bereich und in verschiedenen Einrichtungen finanziert.

Für viele Menschen ist es schwer, einen dieser kassenfinanzierten Plätze zu ergattern. Vor allem jene Betroffenen, die ohnehin in einem labilen Zustand sind, bedeutet die Suche nach einem niedergelassenen Therapeuten einen enormen Stressfaktor - wie Sarah zu schildern weiß. Sie konsultierte gut acht Psychotherapeuten in verschiedenen Einrichtungen und am freien Markt: "Du musst tausende Anfrage-Mails schreiben oder anrufen. Natürlich ist das Ganze auch peinlich. Dann kriegst du Absagen, weil sie keine freien Kassenplätze haben. Das zieht sich wochenlang. Wenn ich schon so überfordert davon bin, welches Brot ich im Supermarkt kaufen soll und deswegen fast einen Zusammenbruch bekomme, wie soll ich da einen Therapeuten auswählen und suchen?"

Angesprochen auf die Kritik, dass zu wenig kassenfinanzierte Plätze vorhanden seien, antwortet die WGKK, dass sie bemüht sei, das Angebot laufend auszubauen und dass vor allem in den letzten Jahren viel in die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen geflossen sei.

Gute Erfolgsaussichten bei rascher Behandlung

Seit der Geburt ihrer ersten Tochter 2015 hat sich Sarahs Essverhalten normalisiert. Das Essen in der Schwangerschaft und in der Stillzeit fiel ihr plötzlich leicht, da sie wusste, dass sie nun für jemand anderen essen musste. Auch nach dem Abstillen erlitt sie keinen Rückfall und schätzt sich heute als stabile, wenn auch immer noch empfindliche Person ein. Mittlerweile ist die 28-Jährige auch nicht mehr in therapeutischer Behandlung.

Dass Sarah kein Einzelfalls ist, sondern ein guter Ausweg aus der Essstörung grundsötzlich möglich ist, davon sind auch Hockl und Tretter überzeugt. "Eine Therapie kann erfolgreich verlaufen," betont Hockl, "wenn die Essstörung früh erkannt wird und die Therapie früh beginnt. Wichtig ist immer die Mitarbeit des Patienten, denn letztlich geht es darum, ein selbstbestimmteres Leben führen zu können."

Auf einen Blick: Akuthilfe

Hotline sowhat:
Tel. 4065717-0
info@sowhat.at
www.sowhat.at

Notfallpsychologischer Dienst Österreich
Telefon:0699 / 18 85 54 00m www.notfallpsychologie.at

Psychologische Beratungsstelle für Studierende Wien
1080 Wien, Lederergasse 35, 4. Stock, www.studierendenberatung.at

Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien
III. Med. Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik
Tel. 01 / 599 88- - 2105

Akutambulanz des AKH Wien (Psychiatrie und Psychotherapie)
1090 Wien, Währinger Gürtel 18-20, http://www.akhwien.at/default.aspx?pid=2935

Essstörungshotline
Tel. 0800 20 11 20, http://www.essstoerungshotline.at/hotline/

Kriseninterventionszentrum
Lazarettgasse 14A, 1090 Wien, http://www.kriseninterventionszentrum.at/

Rat auf Draht
Tel. 147 (ohne Vorwahl), http://rataufdraht.orf.at/beratung

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