Die große Stunde der Angela Merkel

Wenn Donald Trump auch nur ansatzweise seine Wahlversprechen umsetzt, kommt es zu gravierenden Verwerfungen in der Welt. Europa muss sich neu positionieren und kann auf die deutsche Kanzlerin nicht verzichten.

Die Aussetzung von Freihandelsabkommen, die Aufkündigung des Nuklearvertrags mit dem Iran und des Klimaschutzabkommens, eine andere Haltung zur Nato, eine Verständigung mit Russlands Wladimir Putin, ein Einreisebann für Moslems, Errichtung einer Mauer an der Grenze zu Mexiko und die Abschiebung von Millionen illegalen Einwanderern: Das sind nur einige der spektakulärsten Ankündigungen, die Donald Trump im US-Wahlkampf gemacht hat.

Nach der Schockstarre, die angesichts seines Wahlsieges viele Staatskanzleien erfasst hat, kehrt langsam wieder Pragmatismus ein. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz brachte es auf den Punkt, indem er sagte, Wahlkampfrhetorik und Regierungspraxis stimmten oft nicht überein. Daraus spricht die Hoffnung, es werde schon nicht allzu arg kommen.

Alles ist möglich. . .

Bevor wir uns aber den Wahlsieg Trumps schönreden, sollten wir uns dessen Umfeld näher ansehen. Denn Trump, der keinerlei politische Erfahrung hat, wird auf professionelle Berater angewiesen sein. Sein Vizepräsident, Mike Pence, ist ein erzkonservativer Ideologe; die Ministerkandidaten Newt Gingrich und Rudy Giuliani gelten als Scharfmacher, sein Chefberater Stephen Bannon ist ein rassistischer Demagoge. Vor allem er sorgt bei gemäßigten Republikanern, liberalen Demokraten und Bürgerrechtlern für Empörung, weil er über seine Website Breitbart News brutale Polemik gegen Einwanderer und Minderheiten verbreitet.

Die Hoffnung des republikanischen Establishments besteht nun darin, dass Trumps designierter Stabschef, Reince Priebus, gemeinsam mit dem Sprecher des Abgeordnetenhauses, Paul Ryan, die Dinge in halbwegs vernünftige Bahnen lenken wird. Dafür spricht, dass Trump nach seiner Wahl das Präsidentenamt in vier Jahren wohl verteidigen will, wofür ein moderater Kurs der Mitte hilfreich wäre. Dagegen spricht das ungezügelte Temperament dieses unberechenbaren Bauunternehmers.

Unverbesserliche Optimisten sehen in Trumps Ankündigung, Teile der Gesundheitsreform Obamacare zu belassen, ein Anzeichen von Pragmatismus. Bis zur Angelobung im Jänner wird wohl hinter den Kulissen um Inhalte und anstehende Postenbesetzungen gerungen werden. Bis dahin herrscht Ungewissheit und die Welt tut gut daran, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Das gilt insbesondere für Europa, das nach der Eurokrise eine Flüchtlingskrise und den Brexit zu bewältigen hat.

Mit dem Nato-Land Türkei, dessen Autokrat Recep Tayyip Erdoğan Opposition und Medien unter Kuratel stellt, der Bürgerrechte beschneidet und die Todesstrafe wieder einführen will, wird die EU die Beitrittsverhandlungen wohl nicht fortführen können. Das wiederum könnte zum Platzen des Flüchtlingsdeals, der die EU-Staaten entlasten soll, führen und weitreichende Konsequenzen haben.

Putins diebische Freude

Große europäische Länder wie Frankreich oder Italien haben mit existenziellen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Wie lang sich der italienische Ministerpräsident, Matteo Renzi, noch halten kann, weiß niemand. Und in Frankreich, wo Präsidentschaftswahlen bevorstehen, hat die Vorsitzende des rechtsradikalen Front National, Marine Le Pen, beste Chancen, in die Stichwahl zu kommen. Wie andere europäische Rechtsradikale freut sich Frau Le Pen über den Wahlsieg von Trump und pflegt ein Naheverhältnis zu Putin. Durch den Regierungswechsel in den USA werden also auch die politischen Spaltungen in Europa vertieft. Und über diese Destabilisierung freut sich wiederum der russische Präsident Putin diebisch.

Europa steht also vor riesigen Herausforderungen. Die EU muss ihre Strukturen und Entscheidungsabläufe reformieren. Gleichzeitig muss sie sich neue und realisierbare Ziele setzen, um das Vertrauen ihrer Bürger zurückzugewinnen. Und das alles in einer Zeit des Erstarkens des Nationalismus als Reaktion auf die Globalisierung und wachsende wirtschaftliche Ungleichheit.

Da sich aber mit Angst weder im Privatleben noch in Gesellschaft und Politik Probleme lösen lassen, bedarf es einer offensiven Konzeption, wie sich Europa gegenüber den USA unter Trump und Russland unter Putin sicherheitspolitisch positioniert und seine demokratischen Werte verteidigt. Und es braucht glaubwürdige Führerschaft. Dazu ist derzeit nur Deutschland mit seiner Kanzlerin, Angela Merkel, in der Lage.

Mehrere Koalitionsoptionen

2017 steht in Deutschland eine Bundestagswahl an. Merkel, die überzeugte Europäerin an der Spitze der CDU, zögert bisher, ihre neuerliche Kanzlerkandidatur anzukündigen. Bis zum Jahreswechsel dürfte sie ihre Entscheidung aber bekannt geben. Denn sie erkennt die aktuellen Gefahren und hat Verantwortung in schweren Zeiten noch nie gescheut. Gerade bei einer äußeren Bedrohung aber setzt der Wähler im allgemeinen auf politische Kontinuität.

Merkel wird auf etwas geringerem Stimmen- und Mandatsniveau mehrere Koalitionsoptionen nach der Wahl 2017 haben: Wenn es gar nicht anders geht, noch einmal mit der SPD; oder mit den Grünen (notfalls unter Einschluss der FDP, falls die es wieder in den Bundestag schafft). Eine Koalition der CDU mit der AfD, die in den Bundestag einziehen wird, kommt für Merkel aber nicht infrage. Rot-Rot-Grün wiederum dürfte keine Mehrheit im Bundestag bekommen und wäre in schwierigen Zeiten angesichts des außenpolitischen Schlingerkurses der Linken auch keine wünschenswerte Option.

Die Basis für Zusammenarbeit

Mit dem wahrscheinlich nächsten Bundespräsidenten, Frank Walter Steinmeier, hat die Kanzlerin ein gutes Arbeitsverhältnis. Merkel könnte Deutschland, das wirtschaftlich gut dasteht, über 2017 hinaus nach innen Stabilität und nach außen jene Handlungsfähigkeit garantieren, die Voraussetzung für eine Führerschaft in der EU ist.

Angela Merkel, die noch vor wenigen Monaten von der Presse totgeschrieben wurde, könnte uns also noch einige Zeit begleiten. Das ist angesichts des übrigen Politikpersonals eine der wenigen positiven Zukunftsaussichten in der internationalen Politik. Timothy Garton Ash, angesehener Professor aus Oxford, meinte, Merkel habe „die bei Weitem würdigste Reaktion auf Trumps Wahl“ gezeigt. „Prachtvoll“ nannte er die Sätze der deutschen Kanzlerin, die von Trump im US-Wahlkampf – wie viele andere auch – beschimpft worden war.

„Deutschland und Amerika“, sagte Merkel, „sind verbunden durch die Werte von Demokratie, Freiheit und Respekt für Gesetz und die Würde des Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Ansicht. Ich biete dem nächsten Präsidenten enge Zusammenarbeit auf Basis dieser Werte an.“ Offenbar hielt sie angesichts der rüden Trump-Sprüche die Erinnerung an diese Werte für notwendig. Dem ist nichts hinzuzufügen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Johannes Kunz
(* 1947 in Wien), arbeitete beim Hörfunk des ORF, ehe er von 1973 bis 1980 als Pressesprecher von Bruno Kreisky ins Bundeskanzleramt wechselte. 1982 Rückkehr in den ORF, wo er von 1986 bis 1994 als Informationsintendant amtierte. Autor mehrerer Bücher zu politischen Themen und Jazzmusik. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2016)

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