Raphael Gielgen: „Das Büro von morgen ist laut und leise“

Raphael Gielgen ist Trendscout und für das Schweizer Design-Unternehmen Vitra als Head of Research immer auf der Suche nach Neuem in der Arbeitswelt.

Sie beschäftigen sich täglich mit dem Thema Veränderung. Was verändert sich Ihrer Meinung nach momentan am stärksten?
Raphael Gielgen: Ich habe kürzlich gelesen, dass die Halbwertzeit von Wissen ungefähr zweieinhalb Jahre beträgt. Veränderung passiert jetzt also in einer anderen Geschwindigkeit als zuvor. Die Menschen sind durchaus überfordert von dieser Schnelligkeit.


Warum ist das so?

Durch den technologischen Fortschritt tut sich auf einmal ein Freiraum auf und Möglichkeiten ergeben sich, die so noch nie da waren. Das ist auch eine Herausforderung, denn viele Leute brauchen eine Anleitung, wie etwas zu tun ist. Der neue Freiraum erfordert, dass man auf einmal Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen muss. Die meisten Unternehmen sind aber noch hierarchisch organisiert, darum haben die meisten Menschen nicht gelernt, selbst Gestaltungsmöglichkeit zu haben.


Sollte man sich darüber nicht eigentlich freuen?
Wir mögen keine Experimente. Wir wollen gern wissen, was uns erwartet und würden das auch gern planen. So ist die Welt aber nicht mehr. Wir müssen uns darauf einlassen, dass wir in einer Zwischenzeit leben, in der wir nicht alles kontrollieren und steuern können.

Welche Rolle spielen dabei neue Unternehmensformen wie Start-ups ?
Die alten Unternehmen sind wie ein Brettspiel. Eindimensional, mit klaren Regeln, einer festen Anzahl an Spielern, und wenn man fertig ist, fängt das Spiel wieder von vorn an. Die neuen Unternehmen sind wie X-Box oder Playstation: Eine unterschiedliche Anzahl von Spielern und hochgradig kollaborativ und das Spiel endet nie. Es geht gar nicht darum, dass jedes Unternehmen zu einem X-Box-Spiel wird. Aber in manchen Bereichen muss es eines werden. Die Kunst für die alten Unternehmen ist es, zu begreifen, in welchen Teilen sie mehr Agilität brauchen und in welchen nicht.

Ist der Grund für all diese Veränderungen die zunehmende Digitalisierung?
Klar. Vorher gab es solche enormen Summen an Daten, die durch Clouds verfügbar sind, noch nicht. Durch die Kombination dieser Daten können ganz neue Dinge gemacht werden. Bei der Industrialisierung konnten bisher nur jene Länder an den Start gehen, die das Kapital für Maschinen oder die Rohstoffe hatten. Heute kann man irgendwo auf der Welt sitzen und morgen eine Firma aufmachen, vorausgesetzt man hat eine gute Internetverbindung. Dann heißt es Rock’n’Roll. Das heißt es aber jetzt auch, es sind im Rennen um Wohlstand viel mehr Leute an der Startlinie als vor 120 Jahren.

Wie wirkt sich das konkret auf die Bürogestaltung aus?
Ich habe neulich eine Studie von einem großen US-Entwickler gelesen. Darin heißt es, dass 2030 alle neu entstehenden Gebäude kognitive Gebäude sein werden, also Gebäude, die wissen, wer wann gekommen ist, wo sein Auto steht, welches Mittagessen für ihn vorbereitet werden soll und so weiter. Das kommt auf jeden Fall. Auch die Anzahl der verbauten Sensoren in der Corporate Real Estate verdoppelt sich im Moment jährlich. Das ist nicht aufzuhalten.

Finden Sie das gut oder bedenklich?
Die Frage stellt sich nicht. Jeder sollte sich selbst einmal fragen, ob er da mitmachen möchte und mit dem Datenschutz ist man in Europa strenger als anderswo. Aber am Ende haben diese Veränderungen einen ganz starken ökonomischen Effekt auf der Betreiberseite und für die Nutzer ermöglichen sie den bestmöglichen Komfort. Wie toll wäre es denn, wenn ich zum Beispiel am Flughafen ins Parkhaus fahre und direkt zum nächsten freien Parkplatz geleitet werde? Ich finde das gut, aber es hat natürlich auch seine Grenzen.

Vor einigen Jahren hielt man Großraumbüros für die ultimative Lösung. Jetzt sind sie schon gar nicht mehr so beliebt. Entwickeln sich Trends nach einer gewissen Zeit wieder zurück?
Wir neigen dazu, absolut zu denken. Wir meinen immer, dass das Neueste immer das Beste ist. Aber das Büro von morgen ist laut und leise, ist introvertiert und extrovertiert, es ist bunt und es ist schwarz-weiß. Aber in der Zukunft werden die Mitarbeiter entscheiden, wo sie sich bewegen, ob sie eher die totale Stille suchen oder mitten im Geschehen sitzen wollen. Natürlich kommt es dabei aber auch auf die konkrete Unternehmenskultur an.

Sie haben in einem anderen Interview Peter Drucker zitiert: „Culture eats Strategy for Breakfast“. Hat das damit zu tun?
Viele Firmen scheren sich bei der Bürogestaltung nicht um den Gründungsimpuls des Unternehmens, dabei ist das das Wertvollste. Ich habe mir in den letzten zweieinhalb Jahren viele Firmen angeschaut. Es gibt Unternehmen, in denen man so eine Energie spürt, dass man am liebsten die Ärmel hochkrempeln und direkt mitmachen möchte.
Das beste Beispiel ist das MIT in Boston. Dort im neuen Medialab ist die einzige räumliche Zäsur die äußere Fassade. Wenn man im Atrium steht, kann man durch die Glaswände durchschauen bis ganz nach hinten. Mit einem Blick bekommt man Zugang zu den Leuten, zur Technologie, zur Art, wie gearbeitet wird. Das löst sofort Neugierde aus und unbewusste Agilität. Da ist der Drang zu forschen so stark, dass Sie ihn als Besucher förmlich spüren.
Ein anderes Beispiel ist die Airbnb-Zentrale. Dort wurden die Zimmer mit den besten Bewertungen nachgebaut. Das bedeutet, es wird ein unmittelbarer Bezug zum Geschäftsmodell und damit eine Verbindung zum Kunden hergestellt.

Wie stehen Sie zum Arbeiten von zu Hause aus?
Da sind wir wieder bei so einem absoluten Thema. Eigentlich müsste man herausfinden, welcher Ort den besten Stimulus wofür hat, von Inspiration bis Konzentration. Zuhause habe ich immer Rückzug und Verlangsamung, kann mich also gut konzentrieren. Manchmal inspiriert es mich aber auch, in einer Transitzone am Flughafen zu arbeiten, wo es nur so wuselt. Dort würde ich allerdings nie eine Studie schreiben.

Sie selbst sind 200 Tage im Jahr unterwegs. Haben Sie zu Hause trotzdem ein Büro eingerichtet?
Ja, einen Tag in der Woche versuche ich, zu Hause zu arbeiten. Da habe ich ein richtig cooles Büro mit einer großen Bücherwand und einem Schreibtisch, auf dem es ziemlich wüst aussieht. Und wenn ich rausschaue, schaue ich auf eine Pferdekoppel und in den Wald.

Zur Person

Raphael Gielgen. „Vorstellen kann ich mir alles“, das ist Raphael Gielgens Motto, wenn es um die Bürogestaltung der Zukunft geht. Der Trendscout für das Schweizer Unternehmen Vitra kennt die Herausforderungen, die durch die Digitalisierung auf die Arbeitswelt zukommen. Gielgen ist Head of Research und Trendscout beim Schweizer Wohn- und Büromöbel Hersteller Vitra. Um die spannendsten Neuheiten zu entdecken, bereist er die Welt – bis zu 200 Tage im Jahr soll er unterwegs sein.

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