Servitenviertel: Dörfliches Flair mit Luxusambitionen

Wiener Grätzel, Teil 1. Bürgerliche, Studenten, Frankofone und schicke Geschäfte beleben das Servitenviertel im 9. Bezirk. Was macht das Grätzel für seine Bewohner noch aus?

Samstagvormittag auf dem Servitenplatz vor der Kirche im 9. Bezirk: Biogemüse und -obst, Honig und Wein, der Markt für Lebensmittel aus biologischem Anbau ist gut besucht, viele kennen sich. „Mir gefällt am Grätzel am besten das Dörfliche“, bestätigt Ingrid Bürger den Eindruck. Sie führt die Konditorei am Platz, die seit über 100 Jahren besteht. Auch unter der Woche trifft man sich, in den Geschäften und Lokalen prägen Stammkunden und Studenten das Bild.

Die Architektur im Alsergrund rund um Serviten-, Berg- und Porzellangasse hat hingegen weniger Dorfcharakter: Die alten Zinshäuser sind großteils gepflegt, Neubau gibt es so gut wie keinen, aber es wird und wurde saniert: Über vielen Dächern erspäht man von der Straße aus neue Dachaufbauten und Kräne, oder man blickt auf durch Baugerüste verhüllte Fassaden. Die letzten Jahre haben dem Grätzel immobilientechnisch einen Preissprung verpasst, was neu entsteht oder hergerichtet wird, liegt oft im oberen finanziellen Segment: Die ehemalige „Centrale II des Staatstelephons“ in der Berggasse wird gerade zu einem Büro- und Wohnhaus hinter historischer Front aus dem Jahr 1899 umgestaltet. In einem Innenhof der Türkenstraße wird ausnahmsweise auch neu gebaut: Architekt Arkan Zeytinoglu ist hier federführend, der Altbau zur Straße hin wird saniert. Stöbert man online unter den Immobilienangeboten, so findet sich beispielsweise eine Dachgeschoßwohnung mit knapp 200 Quadratmetern, sechs Zimmern, „Wellnessbereich im Masterbedroom möglich“. Kostenpunkt: 1.179.000 Euro. Die Entwicklung dürfte sich fortsetzen, mit Herbst 2013 beziehen die Uni-Fakultäten für Mathematik und Wirtschaftswissenschaften das Hochhaus an der Lände Ecke Berggasse aus den 1950er-Jahren, das zur Zeit adaptiert wird. Damit wird das Grätzel wohl noch näher zum 1. Bezirk rücken.

Gebäudetechnische VIP-Zone

Das Who's who der Gebäude des Viertels lässt sich sehen: Palais Liechtenstein, Freud-Museum, die alte Porzellanmanufaktur, die versteckt liegende Strudlhofstiege, die aus der Zeit des Wiener Jugendstils stammt und auch durch den Roman von Heimito von Doderer bekannt wurde. Hin zur grünen Rossauer Lände findet sich das Polizeigebäude aus dem Jahr 1904, in dem ein „Anhaltezentrum“ untergebracht ist: schön von außen, von innen für die „Angehaltenen“ wohl weniger. Doch noch immer steht der Kirchenplatz im Zentrum, rundherum, entlang der Servitengasse hin zur Berg- und Porzellangasse reiht sich ein Lokal an das andere. Geht man durch die umliegenden Gassen, sieht man an den Häusern secessionistisches Dekor, historisierende, neoromanische oder neogotische Elemente, viel aus der Gründerzeit. Sehenswert ist auch ein anderes, ein bisschen makaberes Zusammentreffen: Ein alter jüdischer Friedhof liegt in der Seegasse verborgen hinter einem Pensionistenheim. Die Bewohner blicken direkt auf den Friedhof, von der anderen Seite tönen bei warmen Wetter Ballgeräusche von einem Tennisplatz.

Nahe zum 1. Bezirk und doch nicht in der City

Fragt man die Geschäftsleute, warum sie den Bezirk als Standort gewählt haben, so nennen viele die Nähe zum Zentrum – ganz so teuer wie im Ersten sei es dann aber doch nicht. Neben Alteingesessenen haben sich in den vergangenen Jahren viele schicke Läden niedergelassen. „Der neue Uni-Standort kann sich nur positiv auswirken“, meint die Sugar Artistin (nicht Zuckerbäckerin) Kamila Cir, die in der Liechtensteinstraße die Cupcakes-Manufaktur betreibt und „Motivtorten“ fertigt: etwa ein Backwerk in Form eines Totenkopfes für eine Anthropologin. Schon jetzt kämen viele Studenten und auch Leute aus dem Bezirk, die ihr Handwerk schätzen, Ärzte, Politiker, Schauspieler, meist gut situiert. Angelika Kuspurz, die in der Berggasse in ihrem Shop Tankai Taschen und Lederwaren von Hand fertigt, sieht Anrainer und Kundschaft als „gut durchmischt, aber eher bürgerlich“. Maria Neubauer, die die „Selection Neubauer“ mit Spezereien betreibt, bezieht sich auf die Nähe zur französischen Schule Lycée ums Eck: „Viele unserer Kunden sind frankofon, viele Stammkunden, und sie werden auch auf Französisch bedient.“ Es sind nicht die Schüler, die kommen, viele Franzosen haben sich im Bezirk niedergelassen. Das bestätigt auch Gabriele Adam, die mit ihrer Schwägerin einen Gemüse-, Obst- und Feinkostladen gleich nebenan führt. Das Geschäft gibt es schon seit 30 Jahren, andere alte Geschäfte wurden übernommen oder neu belebt, wie etwa in der Servitengasse. Alte Holzauslagen geben heute der Schokolademanufaktur Xocolat einen Rahmen, gegenüber wird ein ehemaliges Schneiderzubehörgeschäft hergerichtet: Ein Laden für Gewürze soll einziehen, die Holzvitrinen zur Straße bleiben erhalten.

„Früher war das Grätzel schon sehr bürgerlich, es ist moderner geworden“, meint Angelika Merio, die hier aufgewachsen ist und in der Porzellangasse den philatelistischen Verlag Merio-Phil betreibt. Gemeinsam mit ihrer Tochter, der Entertainerin Mel Merio, führt sie im Nebengeschäft einen Vintage-Laden. „Es herrscht zwar noch ein bissl altmodisches Flair, aber das Grätzel ist doch entstaubt und es gibt viel Kultur.“ Wie das Schauspielhaus, das Studio Molière oder das (Puppen-)Kabinetttheater – alle in der Porzellangasse. Klagen über das Viertel gibt es kaum, „nur mit den Parkplätzen ist es ganz schlimm“, meint Brigitte Kreis vom Einrichtungsgeschäft Domicil. Selbst wenn man öffentlich gut angebunden ist: U4, U2, Straßenbahn D, 5 und 33 sowie die Buslinie 40a sind in Gehnähe. Auch mit Schulen ist das Grätzel gut bestückt: Neben dem Lycée gibt es zwei Gymnasien, eine Volksschule und eine Hauptschule mit Schwerpunkt Informatik. Zum Austoben bietet sich auch genügend Grünraum mit dem Liechtensteinpark inklusive Spielplatz oder der Rossauer Lände. Bis dort die Burschen wieder neben dem Fußballkäfig ihre Klimmzüge üben, muss man wohl noch bis zum Frühjahr warten. Auch die Radfahrer und Jogger werden spärlicher, und in der Sommerausgehzone „Summerstage“ sieht man nur verschlossene Boxen.

Auf einen Blick

Für Eigentumswohnungen bei Erstbezug muss man im 9. Bezirk laut Immobilienpreisspiegel der WKO im Schnitt 3482 Euro pro Quadratmeter berappen. Bei gebrauchten Wohnungen beträgt dieser Wert 2517 Euro. Die durchschnittliche Miete beträgt 9,5 Euro pro Monat und Quadratmeter. Es werden jedoch verstärkt Luxuswohnungen angeboten, deren Wert höher liegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2012)

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