Zirbenzimmer, Lärchenschindeln

Serie: Bauen in den Alpen. Ein großes Tourismusprojekt im Osttiroler Kals verzichtet auf jedes alpine Klischee. Eine Vision ist, dass auch das Umfeld fast autofrei wird.

Als vor eineinhalb Jahren Bagger die Baugrube auf dem Plateau über dem Dorfzentrum von Kals aushoben, stießen sie auf unerwartetes Gestein: „Marmor, grau mit Einsprengseln“, erzählt Martha Schultz von dem großen Bauprojekt in dem Osttiroler Bergsteigerdorf, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder Heinz vorangetrieben hat – „Gradonna“ hat vor wenigen Tagen den Betrieb aufgenommen. Der Stein wurde gleich eingearbeitet – in die Lobby des neuen Vier-Sterne-Superior-Hotels, das von insgesamt 42 Chalets umgeben ist. „Die meisten Kalser wussten nicht, dass hier Marmor vorkommt.“

Bekannt hingegen war, dass der Ort schon in der Steinzeit besiedelt worden war: Auf dem Gradonna-Plateau kamen die frühesten Keramikfunde Osttirols zutage. So übernahm man den Namen, auch im Sinn des nachhaltigen Konzepts, das sich von der eigenen Quelle und Hackschnitzelheizung bis zur autolosen Erschließung (Elektro-Cars auf dem Gelände) durchziehen sollte.

Die Innsbrucker Reitter-Architekten integrierten die Baukörper quasi in den Wald, vom Dorfkern aus ist bis auf den verglasten Turm des Hotels nur wenig davon zu erspähen. „An den paar Chalets, die schon im Vorjahr errichtet worden sind, haben wir gesehen, wie schnell die Lärchenschindeln nachwittern“, erklärt Schultz. So ist die Farbe vom Stein der umgebenden Dreitausender bald nicht mehr zu unterscheiden, was sich mit der Absicht des Architekten deckt: „Die traditionellen Baumeister entwickelten aus dem Ort, dem Gelände und den technisch-konstruktiven Möglichkeiten der Zeit die Bauformen, die damals richtig waren. Wir tun genau dasselbe“, sagt Helmut Reitter.

So wirken die Chalets wie schlichte Kuben – die Fenster reichen bis zum Boden, die Dächer sind flach und werden mit dem bepflanzt, was im nahen Nationalpark Hohe Tauern wächst. Drinnen befinden sich unter anderem Schlafzimmer in Zirbe, eine große Wohnküche und ein Raum für Sportgeräte. Das Hotel beherbergt auch Restaurant, Wellnessbereich, Sportgeschäft, Turmsuiten. In der optischen Umsetzung verzichtete man auf „jedes platte alpine Klischee“, wie es Reitter formuliert. Die Klarheit mutet eher skandinavisch an.

Vergleichsgrößen für das Projekt sind nicht die üblichen Developments in den Alpen – weder Almdorf-Siedlungen, wie sie in den letzten Jahren aus den Boden schossen, noch Investments in Chalet-Residenzen, die als Freizeitwohnsitz verkauft werden. Das „Gradonna“ wird touristisch genutzt und inhaltlich in das dörfliche und Nationalpark-Umfeld eingebunden. Die Liegenschaft erwarb das Zillertaler Familienunternehmen einst im Paket mit der Bergbahn. Ähnlich wie in den Ski-in-Ski-out-Resorts in den USA oder Kanada entwickeln sich Skigebiet und Immobilie gemeinsam.

Die Bauherren hoffen, dass sich das neue touristische Angebot belebend auf das Dorfleben auswirkt, eine Vision ist, dass sich das autofreie Konzept weiter auf den Ort ausweiten ließe. Das Problem der Abwanderung in Osttirol füllte in der letzten Zeit die Medien, die Wertschöpfung im Ort ist nicht sonderlich hoch. Aber bald kommt ein Supermarkt, ein Reitstall entschied sich, doch nicht zuzusperren. Und die Volksschule Kals vermeldet wieder mehr Schüler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2012)

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