Grätzeltour

Floridsdorf: Zwischen Donau und Angerdorf

Sommerlicher Lieblingsplatz zum Entspannen, Hitze-Aushalten und Geschichten-Durchdenken: Erwin Riess im Garten.
Sommerlicher Lieblingsplatz zum Entspannen, Hitze-Aushalten und Geschichten-Durchdenken: Erwin Riess im Garten. (c) DIMO DIMOV
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Der „Groll“-Autor, Politikwissenschaftler und Behindertenaktivist Erwin Riess über Floridsdorfer Wohn-Charme, Lieblingsplätze und Ärgernisse.

„Ich bin ein Kind der Donau“, meint Erwin Riess. „In Mautern bin ich aufgewachsen, in Krems ins Gymnasium gegangen, und in Wien habe ich studiert. Die Donau hat mich fast immer begleitet.“ Dass er seit 1986 in „Transdanubien“ lebt, war aber „eher Zufall. Ich habe vorher im 18. Bezirk gewohnt, in einer nicht behindertengerechten, sehr kleinen Wohnung“. Seit 1983 nach einem Rückenmarkstumor im Rollstuhl, war Veränderung willkommen. „Ein Freund hat mich auf die Wohnungen im Ernst-Theumer-Hof aufmerksam gemacht, die – übrigens erst im letzten Abdruck – behindertengerecht adaptiert wurden.“

Jedem Haus sein Garten

Seit damals ist der Theumer-Hof sein Domizil. Er ist zum Teil stufig angelegt und verfügt über mehrere großzügige Grünbereiche. Ein lang gestreckter begrünter Platz wurde den alten Ortstrukturen des östlichen Niederösterreich nachempfunden. Das Gleiche gilt auch für die Häuserzeilen der einzelnen Reihenhausgruppen, die ineinander verkettet sind und kleine Plätze umschließen. Das Besondere ist, dass jedes Haus über einen Privatgarten verfügt. Riess' liebster Platz im Grätzel ist im Sommer ebendieser kleine Garten.

„Die ganze Umgebung hier ist mittlerweile geprägt von Siedlungen. Als ich hierhergezogen bin, war mein erster Gedanke: ,Jetzt kommt gleich die Grenze.‘“ Ausnahme war die Wohnhausanlage Gerasdorf, die 1983 von Viktor Hufnagl erbaut wurde, „damals quasi mitten in der Wildnis“. Diese Anlage gilt als beispielgebend für eine Flachbausiedlung, denn die 380 Wohneinheiten sind Angerdörfern nachempfunden: etwa durch die niedrige Randbebauung, die Höfe und Plätze umschließt. Arkaden am Rand der Höfe, Dachterrassen, Loggien und Brückentorbauten als Hofabschlüsse bestimmen die leicht geschwungenen Zeilen. Ein vielfältiges Wohnungsangebot mit Maisonetten- und Split-Level-Wohnungen auf zwei, drei Ebenen kommt dem Wohnwunschbild Einfamilienhaus durchaus nahe.

Einsatz für Barrierefreiheit

Architektonisch immer noch ansprechend, hat Riess auch einen anderen Blick auf die Siedlung, die für 3000 Menschen gebaut wurde. „Für alte oder behinderte Menschen ist es unmöglich, hier zu wohnen: Schwellen und Treppen machen es unmöglich, zur Haustür zu kommen, oder dahinter von einem Raum zum anderen“, konstatiert der Schriftsteller, dessen besonderes Anliegen – schon aus persönlichen Gründen – behindertengerechtes Bauen, Wohnen und Leben ist.

So ist die Anlage auch ein gutes Beispiel dafür, was sich in Sachen Barrierefreiheit in Wien mittlerweile getan hat: Heute wäre sie kein Vorzeigebeispiel mehr. Sie würde den Ansprüchen heutiger moderner Architektur genauso wenig genügen wie alte Busse und Straßenbahnen moderner Mobilität für alle.

Eine echte Grätzel-Herausforderung sieht Riess in der schwindenden Infrastruktur. „Als ich hierhergezogen bin, existierten in fußläufiger Entfernung kleine Geschäfte, ein Café, ein Supermarkt, ein Friseur. Heute herrscht quasi Wüste, im Prinzip ist alles nur mit dem Auto erreichbar.“ Besonders bedauert er die Schließung des Cafés – als verschwundener sozialer Treffpunkt. „Was bei vielen Menschen zu sozialer Isolierung führt, die dann letztlich auf Kosten des Staates gehen wird“, befürchtet er. Er selbst weicht in seine Lieblingsheurigen aus, die rund zwei Kilometer entfernt sind. „In der warmen Jahreszeit ist das kein Problem.“

Seine Erfahrungen im Grätzel und sein Einsatz gegen Barrieren schlagen sich auch in seinen mittlerweile fünf Büchern nieder: Mit hintergründigem Witz und Sarkasmus lässt er den Floridsdorfer Rollstuhlfahrer Groll mit der Ignoranz der Gesellschaft kämpfen, der das Wort Barrierefreiheit unbekannt geblieben scheint – Bewusstseinsschaffung mit Humor. Wenn ihm doch alles zu viel oder zu wenig wird, saust er mit seinem Auto nach Pörtschach zu seiner Freundin, in ihr Haus, das sie für Riess rollstuhlgerecht adaptiert hat. Allerdings: „Das Haus liegt nah beim See. Dorthin komme ich aber leider nicht, weil dort für mich unbewältigbare Stufen hinunterführen.“

Der Stoff für weitere Bücher geht also so schnell wohl nicht aus.

Zum Ort, zur Person

Floridsdorf, der 21. Wiener Bezirk, entstand östlich der Straßengabelung Prager und Brünner Straße. Der Ort wurde nach Abt Floridus Leeb benannt, der Klosterneuburger Gründe vergab. Mietwohnungen kosten zwischen 7,5 und 11,7 Euro/m2, Reihenhäuser zwischen 1707 und 2816 Euro/m2.

Erwin Riess lebt als Schriftsteller in Floridsdorf und Pörtschach, er engagiert sich für barrierefreies Bauen und Wohnen. Seine „Groll“-Romane spiegeln auf sarkastische Art diese Problematik.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2018)

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