Die Studie zeigt beträchtliches Potenzial für mehr Effizienz. Die SPÖ setzt auf einheitliche Leistungen für Patienten vor Kassenfusionen. Minister Stöger greift nach Geld der Beamtenversicherung.
Wien. Sie hat 1400 Seiten: Seit Donnerstag liegt die 630.000 Euro teure Studie der London School of Economics vor – und sie ortet durch mehr Effizienz in der österreichischen Sozialversicherung beträchtliche Sparmöglichkeiten. Vorrangig ist dabei aber nicht die Zahl der Kassen. Sozialminister Alois Stöger und Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner (beide SPÖ) greifen Letzteres gern auf: Sie wollen vor Zusammenlegungen der 21 Sozialversicherungsanstalten zuerst die Leistungen für Patienten vereinheitlichen.
Sparpotenzial
Laut Studie sind bei einer Steigerung der Effizienz der Sozialversicherungen bei konservativer Schätzung Einsparungen zwischen 692 und 845 Millionen Euro pro Jahr möglich (siehe Grafik). Den größten Brocken liefert dabei eine Reduktion der Spitalsaufenthalte. Zehn Prozent weniger brächten 1,2 Milliarden Euro. Da aber im Gegenzug die Versorgung durch niedergelassene Ärzte und Ambulanzen ausgebaut werden muss, bleiben unter dem Strich geringere Kosten von 360 bis 480 Millionen Euro. Die umstrittenen Verwaltungskosten sind laut Studie mit 1,2 Milliarden Euro im internationalen Schnitt niedrig, nur Japan steigt günstiger aus, Frankreich oder Deutschland schlechter. Sparpotenzial: 46 bis 75 Millionen Euro.
Fusionsmodelle
Für Studienleiter Elias Mossialos ist nicht die Zahl der Versicherungsanstalten entscheidend. Es werden vier Fusionsmodelle vorgeschlagen. Modell 1: Pensions-, Unfallversicherung, fusionierte Selbstständigenkasse (Gewerbe, Bauern), fusionierte Kasse für Unselbstständige und Beamte. Modell 2: Pensions-, Unfallversicherung, fusionierte Kasse für Selbstständige, fusionierte Gebiets- und Betriebskrankenkassen, daneben eine Anstalt für Beamte, öffentlich Bedienstete, die derzeit auf 15 eigene Krankenfürsorgeanstalten (KFA) aufgeteilt sind, und Eisenbahner. Modell 3 als radikalste und unwahrscheinlichste Variante: Pensionsversicherung, neun Landeskassen für alle Versicherungssparten und Berufe. Modell 4 ist am ähnlichsten dem derzeitigen System: Pensions-, Unfallversicherung, neun Gebiets- und Betriebskrankenkassen mit sehr verstärkter Zusammenarbeit. Genau da möchte Sozialminister Stöger mit einem Strukturgesetz, das aber sicher nicht vor der Wahl kommt, ansetzen. Sparpotenzial: 120 Millionen Euro. Längerfristig werden Zusammenlegungen nicht ausgeschlossen.
Vereinheitlichung der Leistungen
Wie in der Studie angeregt, setzen Stöger und Rendi-Wagner bei der Harmonisierung des Leistungskatalogs an. Bisher sind die Beiträge bundesweit einheitlich, künftig sollen die Zahlungen der Krankenkassen „auf höherem Niveau“ (Stöger) vereinheitlicht werden. Das hat Mehrkosten je nach Verbesserung von 171 bis 390 Millionen Euro pro Jahr zur Folge. Erklärtes Ziel Stögers ist es außerdem, Selbstbehalte („Krankensteuer“) für Patienten abzuschaffen. Der Sozialminister greift – und bestätigte damit einen „Presse“-Bericht von Mitte Juli – offen nach Geld und Rücklagen der Beamtenversicherung: „Es kann nicht sein, dass jene Kassen, die keine Arbeitslosen versichern, viel Geld auf der Seite haben.“
Weniger Spitalsaufenthalte
Studienleiter Mossialos verlangt die Reduktion teurer Spitalsaufenthalte. Rendi-Wagner will zur stärkeren Steuerung nur mehr ein Krankenanstaltengesetz (bisher Bundes- und neun Landesgesetze), damit mehr Patienten niedergelassene Ärzte, Primärversorgungszentren und Ambulanzen aufsuchen. Ohne Ländersanktus geht das nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2017)