Kritik an Kassenreform: "Keine faire Chance für Selbstverwaltung"

Thomas Lenk (Universität Leipzig), Tom Schmid (FH-St.Pölten), Christoph Badelt (WIFO), Julia Ortner (Moderatorin), Alexander Biach (Hauptverband), Günter Danner ( Europavertretung Deutsche Sozialversicherung) und Axel Olaf Kern (Hochschule Ravensburg-Weingarten).
Thomas Lenk (Universität Leipzig), Tom Schmid (FH-St.Pölten), Christoph Badelt (WIFO), Julia Ortner (Moderatorin), Alexander Biach (Hauptverband), Günter Danner ( Europavertretung Deutsche Sozialversicherung) und Axel Olaf Kern (Hochschule Ravensburg-Weingarten).Hauptverband/APA
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Der Hauptverbands-Chef nennt die geplante Direktwahl der Sozialversicherungs-Funktionäre nach deutschem Vorbild für "diskussionswürdig".

Der Chef des Hauptverbands der Sozialversicherungen, Alexander Biach, hofft bei der Kassenreform noch auf Änderungen. Die Regierung solle der Selbstverwaltung "eine faire Chance" geben, sagte Biach am Dienstag anlässlich der 12. Sozialstaatsenquete von Hauptverband und Wifo in Wien. Für "diskussionswürdig" hält Biach die Direktwahl der Sozialversicherungs-Funktionäre nach deutschem Vorbild.

Noch nicht genau beziffern kann Biach die Kosten der geplanten Sozialversicherungs-Fusion. Demnach wollen die Krankenkassen ihr reguläres Budget "für das normale Geschäft" des nächsten Jahres bis Mitte Dezember erstellen. Die Fusionskosten wollen sie dann nach Inkrafttreten der Reform Anfang 2019 im Rahmen eines "Sonderbudgets" fixieren. Wobei Biach aktuell damit rechnet, dass diese Kosten von der Sozialversicherung ("aus dem System heraus") bezahlt werden müssen.

Badelt: "Exakte Berechnung liegt nicht vor"

Unklar ist sowohl für Biach als auch für Wifo-Chef Christoph Badelt, wie die Regierung auf die behaupteten Einsparungen von einer Milliarde Euro durch die Kassenfusion kommt. Für ihn stehe fest, dass jede organisatorische Veränderung zunächst einmal Mehrkosten bringe und längerfristig dann Effizienzvorteile haben könne, sagte Badelt - aber: "Eine exakte Berechnung in dieser Größenordnung liegt nicht vor." Und Biach betonte zwar, dass die Sozialversicherung natürlich bestrebt sei, ihre im Europavergleich niedrigen Verwaltungskosten weiter zu senken. An den Berechnungen im Gesetzentwurf der Regierung sei er aber nicht beteiligt gewesen.

Apropos: Biach begrüßte zwar das Bekenntnis der Regierung zur Beibehaltung der Selbstverwaltung in den Krankenkassen. Er hofft aber, dass bis zum Beschluss der Reform im Dezember noch Änderungen erfolgen werden. Insbesondere lehnt er das geplante Rotationsprinzip an der Spitze des Dachverbandes der Krankenkassen ab. Damit hätte der neue Hauptverband nämlich sieben Vorsitzende in fünf Jahren. Eine kontinuierliche Führung wäre damit unmöglich. "Das ist keine faire Chance für die Selbstverwaltung und ich würde bitten, das zu überdenken", so Biach.

Außerdem brachte der Hauptverbands-Chef die Möglichkeit der Direktwahl der Sozialversicherungs-Funktionäre nach deutschem Vorbild ins Spiel. Dort werden die Vertreter der Beitragszahler nämlich nicht von Interessensvertretungen (in Österreich Arbeiter-und Wirtschaftskammer) entsandt, sondern bei "Sozialwahlen" direkt von Versicherten gewählt. Zwar habe sich auch das österreichische System bewährt, aber man könne über zusätzliche Partizipationsmöglichkeiten nachdenken - also etwa Wahlen oder Urabstimmungen.

Vergleich von Mercedes mit Dacia

Die zur Enquete geladenen Experten (Thema: "Selbstverwaltung als Governance-Modell der Zukunft?") verteidigten die Selbstverwaltung als "Erfolgsmodell" - und zwar nicht nur in der Sozialversicherung, sondern auch bei sonstigen sozialen Dienstleistungen, wie Tom Schmid von der FH-St. Pölten sagte: "Pflege, Betreuung, Beratungsstellen, Frauenhäuser gäbe es nicht, wenn es nicht diese engagierte selbstverwaltete Aktivität in den Vereinen und Genossenschaften gäbe."

Und Günter Danner von der Europavertretung der deutschen Sozialversicherung in Brüssel warnte davor, bei einer Reform der Sozialversicherungen auch die Selbstverwaltung einzuschränken. Gesundheitssysteme unter direkter Staatsverwaltung wie in Großbritannien oder Schweden hätten mit deutlich größeren Problemen zu kämpfen. So ein System einzuführen würde bedeuten, einen Mercedes wegzuschmeißen und stattdessen einen Dacia zu kaufen: "Spätestens bei der ersten Urlaubsreise gibt das eine Enttäuschung."

(APA)

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