Stanislaw Petrow: Der Mann, der die Welt gerettet hat

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Der sowjetische Offizier Stanislaw Petrow bewahrte 1983 die Welt vor einem Atomkrieg. Er interpretierte einen Alarm richtig – als Computerfehler statt als anfliegende US-Rakete.

Nur weil er am 26. September 1983 die Welt vor der atomaren Vernichtung bewahrt hat, muss er noch lange kein Freund der Menschen sein. Geschweige denn der Journalisten. Sie sollen sich alle zum Teufel scheren, auch die „Presse“, brüllt Stanislav Petrov bei der ersten Kontaktaufnahme ins Telefon. Bei der zweiten ist der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee zwar nicht unbedingt wohlwollender, lässt sich aber doch zu einem Treffen nahe Moskau überreden.

Hier, im Städtchen Frjasino, haust der 73-Jährige zwischen verstaubten Stühlen, Muttergottesikonen und Tierfuttergeruch so, wie ein vereinsamter Held eben haust, dem die Sowjetunion die heroische Leistung lange absprach, um Systemfehler geheim zu halten, und der vielleicht auch deshalb von sich sagt, an der Schwelle zum Atomkrieg nur seinen Job gemacht zu haben. Dieser sah im kritischsten Moment so aus, dass er als Diensthabender der Satellitenüberwachung einen vom System gemeldeten US-Atomwaffenangriff auf die UdSSR als Falschalarm interpretierte.

Schon zwei Jahrzehnte früher, während der Kubakrise, die sich kürzlich zum 50. Male jährte, hatte ein anderer Held, der einfache Marineoffizier Vassili Archipov, den Abschuss eines nuklearen Torpedos und damit ebenfalls einen Atomkrieg verhindert.

Herr Petrow, vor 50 Jahren rettete Archipov die Welt vor dem Untergang,1983 dann Sie. Sind diese Geschichten einander ähnlich?

Stanislaw Petrow: 1962 gab es noch keine Arsenale von Raketen, die über den Ozean hätten fliegen können. Die Raketen waren unvollkommen, und es gab nicht viele. Natürlich wären es mehr als genug gewesen, aber mit dem Potenzial von 1983 war das nicht zu vergleichen. Wenn 1983 die USA und die UdSSR begonnen hätten, aufeinander einzuschlagen, wäre die Katastrophe eine weltweite gewesen. Nukleare Wolken wären nach Europa und alle anderen umliegenden Länder gezogen und hätten einen „nuklearen Winter“ hervorgerufen. Riesige Massen von Erde, die in die Luft geschleudert worden wären, hätten die Sonne verdunkelt. Es hätte nur wenige Überlebende gegeben, und das auch nur in abgelegenen Ecken der Welt.

Bleiben wir noch kurz bei der Kubakrise: Wie gut waren Sie damals informiert?

Wir wussten, dass die USA die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba bemerkt hatten. Ich habe deshalb Einzelheiten gekannt, weil es in unserer Einheit Leute gab, die in Kuba als Berater gedient hatten. Den Abschuss eines US-Aufklärungsfliegers haben sie so erzählt: Es kam der Befehl „zu den Waffen“. Aber die undisziplinierten Kubaner scherten sich nicht darum, saßen da und wollten nur fressen. Da sprang ein russischer Offizier auf und schrie sie zusammen. Oh, der Russki Commandero ist böse. Also gingen sie zu den Abwehrkanonen. Und dort flog ein Höhenaufklärer. Fidel Castro kommt zur Kommandostelle, schlägt mit den Fäusten auf den Tisch: „Schießt ihn ab!“ Da wurde er halt abgeschossen. Angst vor einem Krieg hatten wir damals in Moskau aber nicht.

Und 1983, hatten Sie da Angst?

Die zerstörerische Kraft der Raketen war enorm und beunruhigend. Aber als Soldaten kannten wir uns aus in unserem Metier. Wir waren sicher, dass der Gegner nach einem Überfall sein Fett abbekommen würde. Die Situation war das ganze Jahr über bedrohlich. Dort war Ronald Reagan, ein Ex-Schauspieler. Man begann, am „Star-Wars-Programm“ zu arbeiten. Aber wir wussten sehr gut: Wir haben Laser, und die USA müssen erst einen bauen.

Wurde über die bedrohliche Situation gesprochen?

Was sollten wir besprechen? Wir bekamen jeden Monat die Berichte des Aufklärungsdienstes. Ich habe die Offiziere in Kenntnis gesetzt. Wir sind ja Soldaten, was sollen wir uns sorgen? Die Amerikaner haben mich später gefragt: „Woran haben Sie während des berühmten Fehlalarms gedacht? An Ihre Familie?“ Ich habe geantwortet: „Warum sollte ich! Ihr Amerikaner seid die Sentimentalen.“ Die tragen ein Foto von ihren Frauen in der Tasche. Schwächlinge! Mit mir und meiner Familie wäre dasselbe passiert wie mit allen anderen. Warum sollte ich also nur an meine Familie denken? Ich habe das ganze Land verteidigt. Unangenehm war, dass alles sehr geheim war.

Das heißt?

Dass meine Frau erst zehn Jahre später von diesem Zwischenfall erfuhr. 1993. Damals bat mich ein russischer Journalist lange um ein Interview. Ich habe mich geweigert. Aber dann hat man mir im Verteidigungsministerium gesagt: „Sie können das Interview geben.“ Ich hatte mit großen Geheimnissen zu tun gehabt und war es gewohnt, den Mund zu halten. Hätte ich meiner Frau etwas erzählt, hätte am nächsten Tag die ganze Militärsiedlung davon gewusst. Frauen können keine Geheimnisse für sich behalten. Sie wusste nur, dass ich mit der Weltraumthematik zu tun hatte. Denn das war durch die Bücher auf den Nachtkästchen nur schwer zu verbergen.

Ist es psychologisch schwierig, wenn man trotz solcher Verantwortung mit niemandem darüber reden kann?

Am Arbeitsplatz konnte man ja. Als meine Frau 1993 vom Vorfall erfuhr, da hätten Sie ihre Augen sehen sollen.

Was mich nicht wundert. Was wäre eigentlich gewesen, wenn in der Schicksalsnacht nicht Sie Dienst gehabt hätten?

Es gab das sogenannte System „Perimeter“, das im Westen „Tote Hand“ genannt wurde.

„Tote Hand“?

Das war ein Weltraumwarnsystem. Die zweite Stufe der Warnung vor einem Raketenangriff waren die Radare. Ein System eines automatischen Gegenschlags gab es nicht. Stattdessen den Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, und der hatte den Atomkoffer. Ohne seine Erlaubnis konnte keine einzige Rakete aufsteigen.

Aber die richtige Interpretation des Raketenalarms am 26. September 1983 hing ja doch von Ihnen ab. Woran dachten Sie in den ersten Minuten?

Nur an Arbeit. Eine Rakete startet, Alarm, die Sirene heult. Mir war klar – es war ein Computer.

Das war Ihnen gleich klar?

Natürlich. Der Computer gab die Information, dass er ein Ziel ausgemacht hatte und eine Rakete startete. Die Sirene hat sehr laut geheult. Wir hatten diese Situation viele Male durchgespielt. Meine Meinung war entscheidend dafür, wie die Information des Computers zu verstehen ist. Mir war durchaus bewusst, dass mich niemand korrigiert, wenn ich eine falsche Entscheidung treffe. Wir nannten das das „Gesetz des Hühnerhauses“. Auf dem Land beginnt frühmorgens ein Hahn als erster zu krähen, und die anderen folgen ihm. Mir recht zu geben war viel einfacher, als eine eigene Entscheidung zu treffen. Ich sah aus dem Fenster. Die Kommandostelle hatte zwei Stockwerke, ich stand im ersten Stock. Unten kam die ganze Information zusammen.

Wie im Film.

Wie im Film. Aber ich erinnere mich nicht, dass ich so eine Situation jemals im Film gesehen hätte. Ich saß also vor dem Fenster, unter mir arbeiten die Operateure der Aufklärung. Alle schauten auf mich. Manche sind sogar aufgesprungen. Mir ist fast das Herz stehen geblieben: Es hätte noch gefehlt, dass Panik in der Einheit ausbricht. Das System war sehr kompliziert, eine falsche Handlung, und alles fällt in sich zusammen.

Ich brüllte: „Alles hört auf mein Kommando. Sofort melden. Entsprechend den Vorschriften alle Systeme überprüfen“. Ich bekam Meldungen und habe zusätzlich zur automatischen Informationsverarbeitung die visuelle Überwachung eingerichtet, damit der kosmische Apparat ein Bild auf die Erde warf.

Was war darauf zu sehen?

Die Grenze zwischen Tag und Nacht und viele Punkte in chaotischer Bewegung; alles war ja in Bewegung, die Erde dreht sich, der Satellit fliegt auch. Aber es war keine Bestätigung für einen Raketenstart zu sehen. Ich wusste: Es ist alles in Ordnung. Ich hatte nicht das Recht, meinen Befund auf die visuelle Überwachung zu stützen, denn sie war zweitrangig. Aber es war mein einziger Anhaltspunkt. Und ich habe mir erlaubt zu glauben.

Aber auch die visuelle Überwachung war anfällig für Fehler.

Sie kamen nicht oft vor, aber sie kamen vor. Ich war mir 50:50 sicher und habe für mich entschieden: Egal, wenn ich unrecht habe, muss ich halt dafür bezahlen, aber ich werde niemals Schuld an einem Dritten Weltkrieg haben. In einem solchen wären zuerst wir umgekommen, 20 bis 25 Minuten später aber auch die Amerikaner.

Obwohl Sie den Fehlalarm des Systems aufgedeckt haben, wurden Sie nicht befördert. Wie haben Sie das aufgefasst?

Die Untersuchungskommission fand viele Mängel an der Arbeit des Systems und bescheinigte mir Tadellosigkeit. Das konnte nicht durchgehen, denn vor dem schmachvollen Hintergrund wollte mich niemand auszeichnen. Und so hat man mich mit erfundenen Vorwänden beschuldigt und mir vorgeworfen, ich hätte Dokumente nicht richtig ausgefertigt.

Und was heißt „Dokumente nicht richtig ausgefertigt“?

Jeder Befehl, den ich gab, jede Meldung, alles hätte in ein Journal eingetragen werden sollen. Aber die Ereignisse entwickelten sich so schnell, dass ich keine Zeit dazu hatte. In den ersten zwei Minuten, als angeblich zwei Raketen starteten, war die Hölle los. Ich gab eine Unmenge an Befehlen. Und ich hätte mitschreiben sollen?

Wie wurde man zur Sowjetzeit für eine Arbeit wie die Ihre ausgewählt?

Es gab keine besonderen Tests. Man hat einfach geschaut, welchen Eindruck jemand macht. Wie er arbeitet. Natürlich haben wir an anderen Objekten gelernt. Ich habe mich von Spezialisten aus verschiedenen Abteilungen beraten lassen, die dieses ganze System entwickelt hatten.

Psychologische Trainings?

Gab es nicht. Aber geringste Verstöße wurden streng bestraft. Ich war der Leiter einer Gruppe, ich war ein Systementwickler in der Kommandostelle. Wenn nichts Besonderes passierte, übernachtete ich zu Hause, aber auf der Couch, ohne mich auszuziehen; ich zog nur die Schuhe aus und nahm die Krawatte ab. Ich hatte ein eigenes Telefon. Man hebt den Hörer ab und hört eine Melodie „Erhebe dich, riesiges Land, erhebe dich zum tödlichen Kampf!“

Haben alle den Druck ausgehalten?

Einmal kam so ein Fall vor: In einem Atomkraftwerk gab es eine sehr schwierige Situation mit einem Reaktor. Und der Chefoperateur verlor die Nerven. Er stand auf und ging weg. Ging aus dem Raum. Die Verantwortung war zu viel für seine Nerven. Aber wir selbst trieben Körperertüchtigung und zwangen auch unsere Offiziere dazu. Sport stärkt das Nervensystem.

Warum verließen Sie 1984 die Armee?

Mit 45 Jahren war ich alt genug, um in Pension zu gehen. Aber die Pension wurde mir nicht ausbezahlt. Kommerzbanken zahlten keine Pensionen aus, sondern ließen das Geld arbeiten. Zu der Zeit wurde auch der Rubel abgewertet.

Ich ging in ein wissenschaftliches Forschungsinstitut, weil man dort eine führende Fachkraft brauchte. Dort wiederum gab es Finanzierungsprobleme. Meine Frau hatte eine winzige Pension, sie hatte einen Gehirntumor und war Invalide. Wir hatten zwei Kinder. Ich bin fast verhungert. Als ich 1994 endgültig aus dem Forschungsinstitut weggegangen bin, habe ich meinen gewohnten Bekanntenkreis verloren. Das war schwer. Die Einsamkeit.

Einsam trotz der historischen Leistung?

Den Zwischenfall von 1983 habe ich, wie die anderen auch, glücklicherweise vergessen. Niemand hielt das für Heldentum. Es hat funktioniert, und das war's. Es ist überflüssig zu reden, zu tratschen, den Helden zu geben.

Sie sind erst 1999 zum ersten Mal ins Ausland gereist. Hat das Ihre Vorstellung von der Welt verändert?

Natürlich! Wir waren so naiv! Wir waren alle voll von Propaganda. Es gab diese Politik der Kommunistischen Partei: Je weniger Fremdsprachen wir sprechen, desto besser für sie. In der Kommandostelle haben Sie sich vorgestellt, dass rundum lauter Feinde seien. Dann haben Sie diese „Feinde“ mit eigenen Augen gesehen.

Was würden Sie gern an die heranwachsende Generation weitergeben?

Die heranwachsende Generation wird das nicht zu schätzen wissen, aber für mich war es wie ein frischer Atemzug, als die Perestroika anfing und alle Kommunisten zum Teufel schickte. Ich hatte persönlich das Vergnügen, als der Sekretär der Parteizelle zu mir kam und fragte: „Zahlst du den Mitgliedsbeitrag?“ Ich habe meinen Parteiausweis, den ich zur Arbeit im Forschungsinstitut gebraucht hatte, auf den Tisch geknallt: „Geh zum Teufel und seiner Großmutter mit deinem Mitgliedsbeitrag und deiner kommunistischen Partei!“, habe ich gesagt. Und das mit dem allergrößten Vergnügen.

Wettrüsten

Im Kalten Krieg hatten die USA beim nuklearen Wettrüsten von Beginn an die Nase vorn: Bereits 1945 setzten sie gegen Japan zwei Atombomben ein. Die Sowjetunion entwickelte erst 1949 Nuklearwaffen. Das Wettrennen betraf neben den eigentlichen Sprengköpfen, die immer weiterentwickelt wurden, auch die Trägersysteme. Man garantierte sich die wechselseitige Vernichtung. Entscheidend war die Kapazität zum Zweitschlag, sprich, ob man auch nach einem erlittenen Angriff zum Gegenschlag fähig war. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatten USA und Sowjetunion gemeinsam etwa 70.000 Atomsprengköpfe.

Um 1970 begann die Abrüstung: Am Anfang standen der SALT-I- und der ABM-Vertrag, es folgten SALT-II, START I III und 2002 SORT.

Fakten

1962 stand die Welt knapp vor einem Atomkrieg: Ursache war die Stationierung sowjetischer Raketen auf der Karibikinsel Kuba. Die Lage spitzte sich über mehrere Tage immer weiter zu, bis am 27. Oktober ein US-Zerstörer ein sowjetisches U-Boot zum Auftauchen zwang. Um ein Haar hätte das U-Boot deshalb einen nuklearen Torpedo abgefeuert, wofür die Zustimmung dreier Offiziere notwendig war. Wassili Archipow war als einziger dagegen und verhinderte damit wohl einen nuklearen Schlagabtausch.

1983 bekam die Welt hingegen nichts von der neuerlichen Gefahr eines Atomkriegs mit. Im September dieses Jahres meldete ein sowjetisches Frühwarnsystem eine anfliegende US-Rakete. Oberstleutnant Stanislaw Petrow interpretierte dies allerdings als Fehlalarm – und lag damit richtig. Eine andere Reaktion hätte vermutlich einen großen Teil der Menschheit ausgelöscht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.12.2012)

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