November 1945: „Ein Kulturvolk hat gewählt...“

Die ersten Wahlen in der 2. Republik – Triumph für die ÖVP, Debakel für die Kommunisten.

November 1945. Hunderttausende Österreicher waren nach den Kriegswirren noch nicht in ihre Heimat zurückgekehrt, entsprechend chaotisch sahen die Wählerverzeichnisse aus. Für den 25.November („Kathreintag“) waren die ersten freien Nationalratswahlen der 2.Republik angesetzt. Trotzdem brachten die Behörden in aller Schnelle 3.449.609 Wahlberechtigte zusammen – um 700.000 weniger als bei den letzten vergleichbaren Wahlen 1930. Denn auch die früheren NSDAP-Mitglieder waren vom Urnengang ausgeschlossen. Sie hatten keine „bürgerlichen Ehrenrechte“ (siehe auch „Die Welt bis gestern“ vom 21. November).

Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit die österreichischen Wähler zum letzten Mal an die Urnen gerufen worden waren, um einen Nationalrat zu bestimmen. Das war am 9.November1930 gewesen. Das Jahr 1945 sah also eine ganze Generation von Erstwählern, die im christlichsozialen „Ständestaat“ bzw. in der NS-Diktatur aufgewachsen war. Am 25.November öffneten in Wien die Wahllokale um acht Uhr früh. Der Tag der Entscheidung war gekommen. Jetzt sollte sich erweisen, wie stark die drei Lager eigentlich waren. Der kurze (und kärgliche) Wahlkampf war ruppig geführt worden; die Sozialisten taten sich schwer mit dem neuen Namen, den sich die ehemaligen Christlich-Sozialen nun gegeben hatten: „Volkspartei“. In der „Arbeiter-Zeitung“ schrieb ihr Chefredakteur Oscar Pollak trotzig: „...Wir wollen es bei dieser Wahl und jederzeit laut verkünden: Wir sind eine sozialistische Volkspartei!“

Die ÖVP wieder brachte Flugblätter unter die Leute, „Der rote Faden“ genannt: „Der rote Faden hat Oesterreich schon einmal erdrosselt! Wieder will man dich anlügen! Oesterreicher, du hast gelernt!“

Habsburg wollte mitmischen

Zu allem Überdruss waren mitten im Wahlkampf der „Thronanwärter“ Otto von Habsburg und sein jüngerer Bruder Robert nach Tirol eingereist. Die SPÖ heulte auf, Adolf Schärf behauptete in einer Massenversammlung, Robert habe in einem Vorort von Innsbruck den Eintrag ins Wählerverzeichnis verlangt. Als Berufsbezeichnung habe er „Erzherzog von Österreich“ angegeben. Die beiden Habsburger hatten das Land aber schon wieder verlassen.

Und ÖVP-Obmann Figl schlug zurück, auch nicht fein: „Wir haben für Österreich gekämpft und gelitten, als die anderen in der Emigration saßen...“ Oscar Pollak und seine Ehefrau waren eben erst aus Großbritannien zurückgekehrt.

Die Stimmabgabe war bis 16Uhr möglich. Vor den Wahllokalen hatten die Parteien Aktivisten postiert, die den Wählern ihre Stimmzettel aufdrängten. Es gab ja noch keine amtlichen Stimmzettel.

Danach wurden in jedem Lokal die Stimmen gezählt und das Resultat der nächsthöheren Wahlbehörde gemeldet. Die Veröffentlichung von Ergebnissen, so hatten die Alliierten verfügt, durfte nicht während der Dunkelheit erfolgen, sondern jeweils nur zwischen neun und 15 Uhr. Nach Abschluss des Wahlvorgangs war dem Alliierten-Rat ein „Generalbericht“ vorzulegen, der auch Informationen über allfällige Schwierigkeiten und Zwischenfälle enthalten sollte. Doch zu solchen ist es nicht gekommen.

„Ein Kulturvolk hat gewählt“, schrieb das „Neue Österreich“ nicht ohne Stolz. Diese Zeitung, die im Besitz von ÖVP, SPÖ und KPÖ stand, hatte sich wochenlang bemüht, ihren Lesern den Wahlvorgang zu erklären. Sie hatte erläutert, wie vieler Stimmen es jeweils für ein Mandat in einem der 25 Wahlkreise bedurfte, und was es mit den Reststimmen auf sich hatte. Reichlich kompliziert für die vielen Wahlneulinge. Aber die Wahlbeteiligung war mit 94Prozent unerwartet hoch, wie erst am 27.November in den Zeitungen zu lesen war.

Absolute Mehrheit für Figl

Eindeutig war auch das Ergebnis: Von den 165 Sitzen des Nationalrates entfielen 85 auf die Volkspartei, also die absolute Mehrheit. Ein Triumph. 76 Mandate erhielt die SPÖ – eine herbe Niederlage. Aber die wirkliche Katastrophe ereilte die KPÖ in Form von 4(vier) Sitzen. Weltuntergangsstimmung bei den heimischen Kommunisten, Betroffenheit bei der sowjetische Besatzungsmacht, auch im Kreml. Die Hoffnung auf eine „Volksfront“, also eine gemeinsame Regierung der beiden Arbeiterparteien, war dahin. Und damit auch das Endziel der kommunistischen Machtübernahme, wie sie auch in den östlichen Nachbarstaaten angestrebt – und dort realisiert wurde.

Noch vor Weihnachten sollte der gewählte Nationalrat zusammentreten. Als Ort bot sich nur der große Sitzungssaal des alten Abgeordnetenhauses an, der als einziger der großen Räume des Parlaments nicht total kriegsbeschädigt war. Nach der Konstituierung des Nationalrats würde die Amtszeit der provisorischen Staatsregierung unter Karl Renner zu Ende sein, so hatte es der Staatsmann selbst konzipiert. Und er stellte mit einsamer Autorität auch fest: „Dem Sinn der Demokratie entsprechend, erscheint die stärkste Partei, also die ÖVP, die über die absolute Mehrheit des Nationalrats verfügt, berufen, die Führung der Staatsgeschäfte zu übernehmen, und es kommt in erster Linie ihr Führer für die Stelle des künftigen Staatskanzlers in Betracht.“

Es bleibt bei der Dreierkoalition

ÖVP-Obmann Leopold Figl betonte jedoch gleich nach dem Wahltag, es bestehe „nicht die Absicht, eine reine Mehrheitsregierung aufzurichten“, vielmehr „wird man an dem Gedanken der Zusammenarbeit der Parteien, der sich in den sieben Monaten seit der Befreiung überaus bewährt hat, weiter festhalten“. Auch die KP bekam einen Minister.

Ein durchaus positives Urteil über die österreichischen Wahlen fällte auch die britische Zeitung „Daily Telegraph“. Sie schrieb von einem Wechsel „in geordneter Entwicklung und auf verfassungsgemäßem Weg“. Dies zeige eine Abneigung gegen alles Extreme und sei ein hoffnungsvoller Silberstreif am sonst düsteren europäischen Horizont. Die Londoner „Times“ erinnerte an die Zusagen von US-General Mark Clark und empfahl den Alliierten, die Besatzung zu Ende zu führen, und zwar „so schnell, wie es mit ihrer Verantwortung vereinbar ist“. Die Österreicher lasen solche Zitate zwar gern, gaben aber ihre Skepsis nicht auf. Sie sollten damit recht behalten.

FRAUEN IM KOMMEN

ÖVP und SPÖ waren 1945 besonders um weibliche Wähler bemüht, bildeten diese doch die große Mehrheit. Für den Nationalrat präsentierte die VP Nadine Paunovic. Die vom NS-Regime enthobene Englischlehrerin war nun Bundesleiterin der neuen „ÖVP- Frauenbewegung“; sie wurde auch gewählt, schied aber 1950 aus und starb 1981. Als ÖVP-Gemeinderätin kandidierte Nora Hiltl, Musikprofessorin am Gymnasium Wenzgasse; sie hatte nach 1938 einen Chor gebildet, in dem gezielt Österreichisches gesungen wurde; auch sie hatte bei der Wahl Erfolg, war später Bundesrätin und starb 1979. Bei den Sozialisten trat vor allem die KZ-Überlebende Rosa Jochmann hervor, die lange Jahre eine Galionsfigur blieb. Sie ist 1994 gestorben, 93 Jahre alt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2009)

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