Von einfachen Worten

Management im Kopf: Folge 11. Die Online-Kolumne stellt das Thema Komplexität in den Mittelpunkt. Diesmal über Ernst von Glasersfeld, den Vater des Radikalen Konstruktivismus.

In unserer Kolumne „Management im Kopf“ stellt Maria Pruckner führende Forscher vor, deren Beiträge und Denkwerkzeuge für das Meistern von Komplexität sich in der Praxis der Wiener Beraterin und Entwicklerin seit über zwei Jahrzehnten verlässlich bewähren.

Von einfachen Worten

„Ich habe kein Wort von dem verstanden, was die Trotteln da vorne gesagt haben.“ Diese Auskunft fand sich auf einem anonymen „Feedback-Bogen“. Die „Trotteln da vorne“ waren vier namhafte Wissenschaftler, die auf einer Management-Konferenz in durchaus verständlichen Worten referiert hatten. Das war vor zwanzig Jahren.

Vor vierzig Jahren war das noch anders. Damals kam man sich selbst blöd vor, wenn man etwas Schwieriges aus der Wissenschaft nicht verstanden hatte. War man überfordert, sah man sich weniger in seinem Stolz verletzt, als veranlasst, sich weiterzubilden. So viel zum Kulturwandel.

Etwa in dieser Zeit feierte gerade das Internet seinen Durchbruch. Seit damals werden die Probleme vernetzungsbedingt immer komplexer, erfolgsversprechende Lösungsansätze immer anspruchsvoller, und wegen der Feedback-Bögen die Vorträge immer kürzer und die Worte dafür immer einfacher. Aufs Podium und vor die TV-Kameras holt man, wegen der Kundenzufriedenheit mit der Einfachheit, lieber keine Experten mehr, sondern Leute, die solche gut mimen.

Bullshit

Als Ergebnis erntet man dann, was der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt mit „Bullshit“ meint. Er entsteht u.a. aus dem Irrtum, diffiziles Wissen verstanden zu haben, bloß weil man die einfachen Worte verstanden hat, mit denen es vermittelt wurde. Und zwar durch das anmaßende Gerede von Leuten, die anderen öffentlich Dinge erklären, die sie selbst noch nicht kapiert haben, zum Beispiel im Internet.

Beispielhaft für solchen „Bullshit“ ist die Vorstellung, die Systemwissenschaften seien Naturwissenschaften, in denen man Systeme und ihre Naturgesetze „entdeckt“ hätte so wie Columbus Amerika. Die in dieser Kolumne vorgestellten Autoren der systemwissenschaftlichen Original-Literatur weisen in ihren Werken daher aus guten Gründen präzise auf potenzielle und bereits verbreitete Missverständnisse hin.

Sprache, Wissen und Wirklichkeit

Daran, wer solchen Missverständnissen erliegt oder sie gar noch öffentlich verbreitet, erkennt man auf den ersten Blick, an wem solche Originalwerke spurlos vorüber gegangen sind. Damit habe ich hoffentlich den Weg zum originalen Werk von Ernst von Glasersfeld aufbereitet. Er war der Kybernetiker, der sein Leben dem Zusammenwirken von Sprache, Wissen und der Wirklichkeit gewidmet hat. Glaserfeld ist der geistige Vater des Radikalen Konstruktivismus.

„Die Kybernetik“, so Glasersfeld, „ist eine Denkweise, nicht eine Ansammlung von Tatsachen. Denken bedarf der Begriffe […] Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass der bloße Gebrauch des einen oder anderen Wortes schon ein Beweis für kybernetisches Denken sei.“ So manchen Kenner des „systemischen Managements“ wird es auch überraschen, dass der Radikale Konstruktivismus keine Philosophie ist, in der die Wirklichkeit aus neurobiologischen Gründen als ausschließlich subjektive Erfahrungswelt beschrieben wird.

Bewährtes Wissen

Der von Glasersfeld geprägte Radikale Konstruktivismus ist eine Theorie des Wissens, ein Modell des rationalen, pragmatischen Denkens. Wissen, so Glasersfelds Ansatz, dient der Anpassung an eine Realität, nicht der Abbildung von einer Realität. Mit dem Anspruch auf die „Viabilität“ von Wissen ging es ihm um Begriffe, Theorien und Vorstellungsmodelle, die sich für jeweils relevante Ziele bewähren.

Glasersfeld betonte auch häufig, dass sich die Kybernetik viel weniger mit Kausalitäten beschäftigt, als mit einschränkenden Bedingungen: „Die Welt, in der wir uns erleben, ist daher für mich eine Welt, die wir innerhalb der bislang erlebten einschränkenden Bedingungen aufbauen und erhalten haben können.“

Und an anderer Stelle: „Aus kybernetischer ebenso wie aus konstruktivistischer Sicht ist Wissen also das Repertoire der Begriffe und Begriffsstrukturen, mit denen der aktiv Erlebende angesichts einer unaufhörlichen Folge von Perturbationen (Störungen) vorübergehendes Gleichgewicht schafft und zu erhalten versucht.“

Es ist eine große Illusion, zu glauben, man könne mit den Worten anderer das Wissen anderer übernehmen. So viel zu Beschränkungen und zur Beschränktheit. Und von einfachen Worten für komplexe Angelegenheiten.

Kurzbiografie Ernst von Glaserfeld

paul pangaro flickr

Geboren 1917 in München, verstorben 2010 in Leverett/USA. Kaum ein Systemwissenschaftler hat in seinen Publikationen so oft und ausführlich Bezug auf seine eigene, ziemlich ungewöhnliche Biographie genommen und so viel davon preisgegeben wie er. Aus Respekt davor hier daher nur der Verweis auf das Ernst-von-Glaserfeld-Archiv an der Universität Innsbruck.

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche Denkwerkzeuge für angewandte Kybernetik zum Problemlösen, Managen und Führen. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens stattet und bildet sie interne und externe Experten aus, die sich in Unternehmen und Institutionen auf das professionelle Meistern komplexer Situationen konzentrieren.

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