Ich, Cyborg

Wie weit wollen wir gehen? Oder, anders gefragt, sollen wir alles, was machbar ist, auch machen? Wo ist die Grenze? Darüber sollte jeder nachgedacht haben.

Der New Yorker Künstler Neil Harbisson ist der erste behördlich anerkannte Cyborg. Über den Kopf des 32-Jährigen biegt sich eine fix in seinen Schädel implantierte Metallantenne. Sie übersetzt dem farbenblind Geborenen Buntheit in Töne. Jetzt „hört“ er Farben. Aber Harbisson will mehr. Und genau dieses Mehr ist der Punkt, an dem sich die Geister scheiden.

Beginnen wir am Anfang. Der britisch geborene und katalanisch aufgewachsene Avantgarde-Künstler leidet unter Achromatopsie, einer seltenen visuellen Beeinträchtigung. Sein Leben wäre Grau-in-Grau, wie bei einem alten Schwarz-Weiß-Fernseher, hätte er sich nicht im Alter von 21 Jahren einen Farbsensor in den Kopf einbauen lassen. Der erkennt die Farbfrequenzen vor ihm anhand ihrer Frequenztöne, sendet diese an einen Chip in seinem Hinterkopf und lässt ihn die Farbe anhand der Resonanz der Knochen hören. Rot hat einen eigenen Ton, Blau und Gelb auch. Erst einmal musste er die Namen der Farben lernen. Dann, als sein Gehirn mit der neuen Fähigkeit umgehen gelernt hatte, kamen täglich neue dazu. Heute kann er 360 Farben anhand ihres Klangs unterscheiden, den gesamten Farbkreis.

Und die Antenne? An die hatte er sich rascher gewöhnt als seine Umwelt. Er musste nur lernen, mit seiner neuen Körpergröße friktionsfrei unter Türstöcken durchzukommen. Duschen und Schlafen sei kein Problem, erzählt er, aber vor betrunkenen Frauen müsse er sich in Acht nehmen.

Bald begann er ein Faible für wohlklingende, miteinander harmonierende Farben zu entwickeln. Die müssen nicht unbedingt optisch gut zusammenpassen (wie seine quietschbunte Kleidung beweist), Hauptsache, sie klingen schön. Bald träumte er auch bunt, mit Symphonieuntermalung.

Mehr davon

Das war der Moment, als er den Chip als Teil seines eigenen Körpers empfand, als Erweiterung seiner menschlichen Sinne. Jetzt war Harbisson ein richtiger Cyborg, bald auch vor den Behörden, die er so weit brachte, dass sie ihn als solchen in seinen Pass eintrugen.

Streng genommen hatte er in diesem Moment sein Geburtsdefizit mit etwas Gleichwertigem aufgewogen. Dieser Status gilt für Prothesen jeder Art und gilt als medizinisch erstrebenswert. Doch Harbisson hatte damit nicht genug. Er fügte seinem Sehspektrum Infrarot und Ultraviolett hinzu. Das sei praktisch, sagt er, jetzt könne er Infrarot-Bewegungsmelder im Raum erkennen und ob zu viel ultraviolette Strahlung in der Luft sei. Er ginge dann nicht mehr Sonnenbaden.

Inzwischen trägt er auch ein Notlicht auf seinem Kopf, das er nach Belieben einschalten kann. Und einen Schalter in einem Backenzahn, mit dem er mit einem gleich ausgestatteten Freund von Zahn zu Zahn kommunizieren kann. Echte „Blue-Tooth-Tooth-Communication“, sagt er und freut sich wie ein Kind.

Immer mehr

Sein Gehirn verändere sich, sagt er voller Stolz. Im Scan leuchteten jetzt andere Areale als zuvor. Sein Traum wäre, sich einen Zeitsinn implantieren zu lassen, und die Zeit, wie er sie erlebe, verlangsamen oder beschleunigen zu können.

Denn Wissen, ist Harbisson überzeugt, kommt von den Sinnen. Wenn wir unsere Sinne erweitern können, erweitern wir auch unser Wissen. Wir sollten daher aufhören, Apps für unsere Handys zu entwickeln und sie stattdessen für unsere Körper programmieren. Uns Sensoren implantieren, Internet- und Kommunikationszugänge im Kopf legen lassen. Er wollte eine weitere Antenne, um und noch ein paar andere Sachen empfangen zu können, aber die hätten ihm die Ärzte verweigert. Schlecht für das Image unseres Spitals, hätten sie gesagt.

Gut, das Image eines Spitals ist ein gewichtiger Grund. Es sei aber auch jeder Mediziner, jeder Forscher eingeladen, nachzudenken, wie weit er gehen will. Und ob alles, was technisch machbar ist, auch anzustreben ist. Und ob es gut ist.

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