Sind wir modern?

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Management im Kopf: Folge 78. InForMent. Komplexität und Führung: Eine leicht ironische Bestandaufnahme

Unternehmen und Institutionen sind hochkomplexe Systeme. Kann man sie überhaupt führen? Und wenn ja, wie? Aktuell bringt Maria Pruckner in ihrer Kolumne MANAGEMENT IM KOPF dazu Anregungenauf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung mit der praktischen Anwendung verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften.

Es war ein typisches Meeting. Seit Langem geplant. Mehreren Entscheidern sollte ein Konzept präsentiert werden, das seit Langem besprochen und vorbereitet worden war. Für ein großes Unternehmen, in dem man sich als sehr (!) modern verstand. Als ich ankam und das bestellte Konzept auspacken wollte, winkte der Leader des Ganzen ab: „Ach, wir sind ja schon viel weiter. Heute geht es schon um etwas ganz anderes.“ Es war klar, dass ich besser nicht fragen sollte, weshalb man mir nicht rechtzeitig Bescheid gegeben hatte. Ich hätte das Passende vorbereiten oder gleich absagen können. Ich fragte stattdessen gelassen: „OK? Was haben wir heute für ein Problem?“ Ich bekam ein Buzzword als Stichwort. Bald saßen alle Entscheider um den Tisch. Alles solle schneller und dynamischer werden in diesem Haus, man müsse und wolle die starren Strukturen aufbrechen.

Ein Laptop!? Igitt!

Um zu zeigen, über welche Parameter ein Unternehmen tatsächlich hochadaptiv und agil wird, packte ich meinen Laptop aus. Während ich ihn an einen viel zu kleinen Bildschirm anhängte, rief der Leader des Ganzen: „Mein Gott, was ist denn das?!“ Unverkennbar wollte er mir mitteilen, wie unmodern ich doch war. Heutzutage arbeite doch kein Mensch mehr auf einem Laptop! Alles werde mit Smartphones erledigt. „Das ist mein Klavier“, sagte ich in aller Ruhe, „mit dem kann ich alle Stücke spielen.“ „Ach so, ein Klavier…“, meinte er. Eine Anmerkung darüber, dass System-Entwickler völlig andere Hard- und Software brauchen als System-Nutzer, schien mir jedenfalls auch unangebracht. Und mehr noch die, dass die Bildschirme für komplexe Probleme und Systeme gar nicht groß genug sein können.

Bei uns hat niemand Angst

Das Unternehmen kannte ich seit Langem als eines von hervorragendem Marketing nach außen und bemerkenswerter Orientierungslosigkeit nach innen. Von der Branche, in der dies stattfand, weiß man, dass sie in den nächsten Jahren viele Mitarbeiter auf die Straße setzen wird. Das liest man auch regelmäßig in der Zeitung. Den Mitarbeitern des Hauses wird dies also nicht verborgen geblieben sein. Also sprach ich betreffend des gewünschten radikalen Wandels zuallererst die Angst der Mitarbeiter an. „Angst?“, fragte einer der Entscheider, „Angst? Also Angst haben unsere Mitarbeiter nicht! Bei uns gibt es keine Angst!“

Der Tod des klaren Denkens

Nun musste ich doch vorsichtig widersprechen. Als radikal angekündigte Veränderungen und Personalabbau würden praktisch immer primär die Angst der einzelnen Mitarbeiter über ihre eigene Zukunft hervorrufen. Diese Angst dürfe man sich jedoch nicht so vorstellen, dass diese irgendwo bibbernd und wimmernd in einer Ecke kauern und sich aus dieser nicht mehr hervorwagen. Vielmehr sei sie zuallererst daran erkennbar, dass die Kreativität und das klare Denken darüber blockiert seien, wie man das Unternehmen in eine erfolgreiche Zukunft entwickeln könne, zumal jeder Einzelne nur noch mit seiner eigenen Zukunft beschäftigt sei. Ich dachte, das wäre nun doch Anspielung genug, um deutlich zu machen, weshalb man sich in diesem Unternehmen schon zu lange um die eigene Achse dreht. Das hat aber auch nichts gebracht.

Soft facts are hard problems

Mein guter alter Heinz von Foerster fiel mir ein: „Die ,hard sciences’ sind erfolgreich, weil sie sich mit den ,soft problems’ beschäftigen, die ,soft sciences’ haben zu kämpfen, weil sie es mit den ,hard problems’ zu tun haben.“ Es war klar, dass man in diesem Unternehmen alles „digitalisieren“ werde, was sich mit künstlicher Intelligenz lösen lässt. Und es war klar, dass man hier nur mit Hardware imponieren konnte, weil man die Software mit ihren Bedienermasken verwechselte. Da gab es dann nur noch eines zu überlegen: Wie verwandelt man den Versuch einer ernsthaften Besprechung in eine unverfängliche und unverbindliche Konversation, um sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen?

Nicht sagen können, was man denkt

Ganz nebenbei handelte es sich um einen internationalen Konzern. Höchstens zwei Prozent der Mitarbeiter konnten die Verkehrssprache Englisch auch als ihre Muttersprache bezeichnen. Alle anderen konnten in vielen Fällen nicht das sagen, was sie dachten, sondern nur das, was sie auf Englisch auszudrücken vermochten. Das war oft viel zu wenig. Selbstredend konnten sie daher auch viel von dem nicht verstehen, was andere meinten. Das war oft viel zu viel. Viele zentrale Funktionen waren mit Führungskräften aus dem Ostblock besetzt, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Die hilfreichste Literatur über den erfolgreichen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik im Management wurde aber nur auf Deutsch publiziert, zumal dieses Thema vor allem im D-A-CH-Raum, insbesondere in der Schweiz erforscht wurde und zwar vor dem Bologna-Prozess. Man hatte sich eine hübsche sprachliche Echokammer eingerichtet, in der man nur noch sich selbst hören konnte.

Wer nicht gut genug Englisch kann

Top-Leute, die heute wahrlich komplexe Probleme erklären und lösen müssen, bestehen längst darauf, nur mit hochqualifizierten und entsprechend spezialisierten Dolmetschern zu arbeiten. Sie haben bereits teures Lehrgeld für die Tücken der Sprache, insbesondere Fremdsprachen bezahlt. Doch wer nicht gut Englisch kann, gilt heute als unmodern. Oft meinen aber jene Leute, die ziemlich gut Englisch können, dass sie es nicht gut genug können, gerade weil sie es gut genug können. Hier schlägt sozusagen der Dunning-Kruger-Effekt zu: Je weniger Ahnung von etwas, umso mehr wird es unterschätzt, umso mehr überschätzt man sich selbst und umso mehr unterschätzt man jene, die etwas wirklich gut können. Wobei sich gleichzeitig jene, die etwas wirklich gut können, meist viel zu sehr unterschätzen. Aber das ist jetzt ein soft fact und damit ein hard problem.

Zu viel Gerede, zu wenig Information

Dass jedes System, daher auch jedes Unternehmen vor allem von der Information lebt, die es gewinnen kann, ist eine der fundamentalsten Erkenntnisse, durch die die neue Zeit mit der modernen Technik hervorgegangen ist. Aber das geht in Unternehmen, die so modern sind wie dieses, leider vollkommen unter. Deshalb kümmert man sich nicht darum, wie die Einzelnen am schnellsten das Nötige erfahren und ohne Umwege zur besten Erkenntnis und Entscheidung kommen können. Es wird vor allem besprochen, viel besprochen und vieles besprochen, ohne dass auch nur einer davon schlauer werden könnte. Aber so ist das mit der modernen Zeit. Es ist ja alles so volatil. Kaum gesagt, gilt es nicht mehr, gilt schon wieder etwas anderes.

Führen ist ja auch nicht mehr modern

Hinzu kommt, dass Führen, im Sinne von eine Richtung und Form vorzeichnen, heute auch nicht mehr modern ist. Heute müssen sich die Mitarbeiter selbst führen und von selbst erkennen, was von ihnen erwartet wird. Man sollte ihnen auch nicht allzu viel drein reden. Aber man sollte ihnen helfen, gute Arbeit zu machen. Wie soll man das tun, wenn einem selbst keiner hilft? Es ist gar nicht mehr lustig, Führungskraft zu sein. Man kann nur noch so tun, als ob es lustig wäre, damit man nicht unangenehm auffällt. Was liegt da näher, als gigantische Cargo-Kulte aufzubauen und so lange aufrecht zu erhalten, bis man in den wohlverdienten Ruhestand fliehen kann?

Das Neue und das Moderne

Zwischen dem wahrlich Neuen und Modernen gibt es einen großen Unterschied. Das wahrlich Neue entspringt einem Geistigen, das zuvor noch nie jemand so gedacht, erkannt, gemacht oder genutzt hat. Das Moderne steht hingegen dafür, in einem eher rasch vorübergehenden Zeitraum Dinge auf eine Art zu denken, zu tun bzw. bestimmte Dinge zu benutzen, mit der man seine Zugehörigkeit als Vertreter eines aktuellen Zeitgeistes zum Ausdruck bringt. Man zeigt, dass man sich einem gerade vorherrschenden Stil oder vorherrschenden Meinungen angepasst hat. Das Neue ist das Gegenteil davon. Es entsteht durch Unangepasstheit, dadurch, etwas nicht so zu denken, zu tun oder zu benutzen, wie es bislang „üblich“, um nicht zu sagen, modern war.

Sind wir modern?

Sind wir modern? Oder sind wir innovativ? Das ist hier die Frage. Mit dem Modernen wird man auf dem Markt nicht viel bewegen. Da gibt es zu viele, die dasselbe tun. Mit dem Neuen, durch das etwas besser wird, schon. Es ist dann von großem Vorteil, wenn man das Neue sehen, berühren, riechen, schmecken etc., kann, weil es sich auf irgendeine Weise materiell manifestieren lässt. Mit dem geistigen Neuen ist das ― . Nun ja, das sind soft facts und damit hard problems.

Das Neue, von dem etwas besser wird

Das Neue, von dem etwas besser wird, hängt trotzdem an den geistigen Konzepten dahinter. So wie es nicht darauf ankommt, ob eine Hardware so modern aussieht wie ein Smartphone oder so altbacken wie ein Laptop. Es kommt auf die Software an, die in der Hardware steckt. Auf dieses Zeug, von dem man als Laie nur seine Maske sieht. Mit Führungskräften ist es auch ganz ähnlich. Es kommt nicht darauf an, ob sie modern gestylt sind, super durchtrainiert und den aktuellen Manager-Sprech drauf haben. Die besten sind oft pummelig. Kein Anzug und kein Kostüm sitzen an ihnen wirklich gut. Ihr Haar ist oft schütter oder von schlechtem Halt. Und sie sprechen oft so wie Stefan Zweig geschrieben hat. Aber Hirn haben sie. So was von Hirn, dass es eine Freude ist. Aber man sieht es halt leider nicht, weder die Hard- noch die Software. Und es lässt sich so schwer begreifen…


Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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