Grippezeit

Arbeiten, bis der Arzt kommt

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Präsentismus. Husten, Schnupfen, Grippe – und trotzdem geht ein Drittel der Österreicher arbeiten. Was gut gemeint ist, schadet in Wahrheit: sich selbst und dem Arbeitgeber.

Die einen feiern krank, obwohl sie es nicht sind (siehe „Presse“ vom 17. Februar, „Von Simulanten und echten Kranken“). Die anderen schleppen sich in die Arbeit, obwohl sie ins Bett gehören.

Dieses Phänomen heißt Präsentismus. Hier stellt der brave Arbeitnehmer sein Pflichtbewusstsein trotz Fieber, bellendem Husten und rinnender Nase über seine Gesundheit. Oder trotz Allergie, Arthritis und Asthma. Ob akute oder chronische Beschwerden, sie müssen ernst genug sein, um einen Krankenstand zu rechtfertigen. Auffallend viele Studien weltweit widmen sich dem Thema.

Wifo-Experte Thomas Leoni kennt die Österreich-Zahlen: Innerhalb eines halben Jahres gehen Frauen trotz gesundheitlicher Einschränkung im Schnitt 7,5 Tage zur Arbeit, Männer sieben Tage. Oder anders: 34 Prozent der Frauen und 32 Prozent der Männer arbeiten, obwohl sie sich schonen sollten.

Kostet mehr und schadet

Präsentismus kennt ein paar Facetten. Man verschiebt das Kranksein auf das Wochenende (70 Prozent der bekennenden Präsentisten), ignoriert ärztliche Krankschreibungen (30 Prozent), nimmt für die Genesung Urlaub (13 Prozent) oder verzichtet auf eine notwendige Kur (neun Prozent).

Gesund ist das nicht. Billig auch nicht. Der Linzer JKU-Professor Joachim Gerich belegt in einem Aufsatz, dass ein Mitarbeiter wegen seiner herabgesetzten Produktivität das Unternehmen mehr koste, als wenn er seine Erkrankung auskurierte. Bei wiederholtem Verschleppen steige die Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung, was Organisation und System noch mehr belaste.

Ganz zu schweigen vom Risiko für den einzelnen: Einer norwegischen Studie zufolge erkranken Präsentisten doppelt so oft an schweren bis tödlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie ehrliche Krankenständler.

Allen Untersuchungen ist eines gemeinsam: Sie widmen sich lieber den Ursachen des Übereifers als möglichen Auswegen. Am liebsten den soziodemografischen Merkmalen:

Alter. Jüngere neigen ein wenig, aber nicht signifikant öfter zu Präsentismus als Ältere.

Geschlecht. Frauen gehen häufiger krank arbeiten als Männer, je höher die Position, desto mehr (bei Männern ist es umgekehrt). Frauen kurieren sich eher aus, wenn Ersatz für sie vorgesehen ist und – Stichwort Teilzeitfalle – wenn die gewünschte Arbeitszeit mit der tatsächlichen übereinstimmt. Männer wiederum bleiben eher daheim, wenn sie nicht schon mit dem ersten Krankenstandstag eine Arztbestätigung bringen müssen (ein nicht unwesentlicher Faktor).

Führung. Dafür hätten wir keine Studie gebraucht: Je besser das Betriebsklima und je integerer die Führung, desto eher traut man sich daheimzubleiben. Von deutschen Fluglotsen weiß man, dass sie besser regenerieren, wenn sie nach einem hoch stressenden Ereignis (zwei Flugzeuge kommen einander zu nahe) heimgehen und ausspannen dürfen – aber nur, wenn der Chef persönlich ihnen freigibt.

Beruf. Ausgerechnet zwei Berufsgruppen, die besonders viel mit Menschen zu tun haben, gehen selbst mit Infektionskrankheiten überdurchschnittlich oft arbeiten: Lehrer (Sozialberufe) und Pfleger (Gesundheitsberufe). Sie meinen es nur gut: Menschliche Schutzbefohlene lässt man weniger leicht im Stich als einen Stoß Akten. Das gilt auch für die Frau und den Herrn Doktor: Ärzte arbeiten auffallend oft, wenn sie eigentlich ins Bett gehörten.

AUF EINEN BLICK

Präsentismus (krank arbeiten zu gehen) und Absentismus (Krankheit vorzutäuschen, um nicht arbeiten gehen zu müssen, siehe „Presse“ vom 17. Februar) sind zwei Seiten derselben Medaille. In Unternehmen, in denen das eine hoch ist, ist es auch das andere. Gutes Betriebsklima und integere Führung wirken dagegen. Paradoxerweise neigen trotz Ansteckungsrisiko besonders Lehrer, Pfleger und Ärzte zum Präsentismus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2018)

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