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Der gefährliche Reiz der Gig-Economy

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Sie arbeiten hart, selbstbestimmt und unter ihresgleichen. Die Gig-Economy kostet klassische Unternehmen den Nachwuchs. Die Jungen kann sie die Absicherung kosten.

Es ist schon seltsam. Der jahrhundertelange Kampf um geregelte Arbeitszeiten, von der 80-Stunden-Woche im 19. Jahrhundert bis zu unseren 38,5 Wochenstunden heute. Das akribische Aufschreiben jeder Mehrstunde, wie es Generationen von Arbeitnehmern gepflegt haben. Der kollektive Aufschrei, als die Möglichkeit eines Zwölf-Stunden-Arbeitstags unter Einhaltung der 40-Stunden-Woche angekündigt wurde. „Keinen Schritt rücken wir von unseren Rechten ab“, sagen manche. Wenn es sein muss, mit Kampfmaßnahmen.

Und dann die andere Seite. Zwölf-Stunden-Tage habe er längst, sagt einem jeder Freiberufler. Weil der Kunde auf den Auftrag warte. Auf die Uhr schauen sie nie, sagen die vielen Neo-CEOs. Weil das Start-up ihr Baby sei und sie darüber ohnehin im Dauerflow. Nach Feierabend gehe es erst richtig los, sagen Halb-Angestellte-halb-Freelancer, die sich nach ihrem regulären Job einem Zweitberuf widmen. Der Abwechslung wegen und, weil sie sich so die Butter aufs Brot verdienen (Pfuscher sagen das auch, aber derer gibt es immer weniger). Der Foodora-Student, der Uber-Fahrer und der Airbnb-Vermieter stimmen zu. Die Arbeit wird erledigt, weil sie anfällt. Ohne Wenn und Aber.

Vollzeit, Teilzeit: Österreicher sind keine Stundenzähler

Der Österreicher ist kein Stundenzähler. Den wenigsten geht es um akkurat eingehaltene Arbeitszeiten (Mütter und Pflegende von Familienangehörigen, ob in Voll- oder Teilzeit, die pünktlich den Bleistift fallen lassen müssen, sind hier explizit ausgenommen. Ihre Erziehungs- und Pflegearbeit ist mindestens so wertvoll, fällt per Definition aber nicht unter den Begriff Erwerbsarbeit. Nur um diese geht es hier.)

Die Beispiele der regelmäßig von Neun-bis-21-Uhr-Arbeitenden haben zwei Gemeinsamkeiten: Erstens, man hat es sich so ausgesucht. Man bestimmt über die eigene Zeit. Wer sie sich selbst einteilt, motzt nachträglich nicht. Zweitens, es geht (auch) ums Geld. Wer von seinen Kunden lebt, wer sein Start-up zum Laufen bringt, wer freiberuflich dazuverdient, der hat eine Karotte vor der Nase.

Millennials und Gen Z

Diese Gig-Economy schnappt traditionellen Firmen Arbeitskräfte weg, alarmiert die Unternehmensberatung Deloitte in ihrer Millennial-Survey. Sie geht noch einen Schritt weiter: Millennials und Gen Z (ab 1980 bzw. 1995 Geborene) würden für ihre Gigs sogar Festanstellungen verlassen. Von 10.455 Befragten dieser Jahrgänge erwägen das 57 Prozent der Millennials und 67 Prozent der Gen Z – wenn sie denn nicht schon weg sind. Als Ergänzung zu einer Anstellung gefällt das Modell 78 Prozent der Millennials und 77 Prozent der Gen Z.

Für traditionelle Arbeitgeber bedeutet das Alarmstufe Rot, weil sie die verzweifelt gesuchten Talente nicht mehr bloß an die Konkurrenz verlieren, sondern an neue (wirklich so neue?) selbstbestimmte Arbeitsformen.

Hier ist eine Klarstellung fällig. Gig-Economy (von englisch „gig“: Auftritt, Begriff aus der Musikbranche) bezeichnet eigentlich Miniaufträge, die Freiberufler oder geringfügig Angemeldete auf der untersten Stufe der Hackordnung erledigen. Sie haben keinen Arbeitsplatz im Unternehmen (dann wären sie Dienstnehmer) und sie nützen eigene Betriebsmittel (Laptop, Handy, Fahrrad). Jedenfalls erfahren sie wenig bis keine soziale Absicherung durch den Auftraggeber. Dieser argumentiert, als bloße Drehscheibe dafür auch gar nicht zuständig zu sein, sprich echte Gig-Nehmer arbeiten höchst prekär.

Aber der Begriff aus der Musikszene ist halt gar so cool, weshalb er im Zusammenhang mit junger Selbstständigkeit immer öfter verwendet wird. Da geht es dann um spezialisierte, oft akademische, jedenfalls akzeptabel bezahlte Tätigkeiten, die Interimsmanager, Programmierer, Architekten oder Designer – um nur einige zu nennen – erledigen. Oft sind das Crowdlösungen in der Peer-Community, in der man sich wohler fühlt als im steifen Altkonzern. Das sollte diesen wachrütteln.

Jedoch: Viele dieser Gig-Worker, die eigentlich Freelancer sind, glauben nicht an eine staatliche Pension eines fernen Tages. Sie vertrauen dem System nicht mehr, zahlen daher nur minimal ein und legen auch „für später“ wenig bis gar nichts zur Seite. Möge ihnen das nicht auf den Kopf fallen.

AUF EINEN BLICK

Freiberuflichkeit, trendig Gig-Economy genannt, ist nach der „Deloitte Millennial Survey“ das bevorzugte Arbeitsmodell der Generationen Y und Z. Umso jünger, desto weniger reizt sie die klassische 9-to-5-Anstellung mit ihren Rechten und Sicherheiten. Wollen Firmen den verzweifelt gesuchten Nachwuchs erreichen, müssen sie ihm seine bevorzugten Arbeitsweisen anbieten. Die Gig-Worker wiederum laufen Gefahr, zu kurzfristig zu denken. Langfristig und in Richtung Pension treffen sie oft keine Vorsorge.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2018)

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