Hurra, wir werden agil! Wenn Unternehmen diese Entscheidung treffen, ist noch eine weitere fällig: Top-down oder bottom-up? Das ist eine Frage der Kultur.
Diese Woche startete auf diepresse.com/karriere die neue Serie „Agil über Nacht“. Scrum, Kanban und Co. sind weithin bekannt, das eine oder andere Tool aus dem agilen Werkzeugkasten (die morgendlichen Stehungen!) auch. Wie aber macht man ein ganzes Unternehmen agil? Darum geht es in der Online-Serie. Im Artikel hier geht es um eine weitere Grundsatzentscheidung, die getroffen werden muss: Top-down oder bottom-up beginnen, also von oben nach unten oder umgekehrt? Vorweg: Beides ist harte Knochenarbeit.
Instinktiv wählen hierarchiebewusste Entscheider Top-down. Das kennen sie, das mögen sie. Für John Kotter, Autor des Managementklassikers „Leading Change“, braucht es zwei Zutaten: das Gefühl von Dringlichkeit und einen Manager vom Typ Feldwebel. Ersteres lässt sich erzeugen, wenn die Firma vor einer gigantischen Chance steht, besser noch vor einer existenziellen Bedrohung. Und ein Feldwebel findet sich in Kontrollkulturen ohnehin leicht. Er muss bloß alle anderen Rollen abgeben (was ihm schwerfällt), weil der Unternehmensumbau seine volle Aufmerksamkeit verlangt. Falsch wäre es laut Kotter, einen externen Feldwebel anzuheuern. Zur Agilwerdung braucht es zwingend einen Internen.
Duales Betriebssystem
Dessen erste Aufgabe ist, eine Führungskoalition auf die Beine zu stellen. Das ist eine Gruppe begeisterungsfähiger Bereichsexperten, Spezialisten und agiler Coaches (wohl spätere Scrum Master), die tatsächlich freiwillig mitmachen. Faustregel: In der Führungskoalition sollen fünf Prozent der Mitarbeiter vertreten sein. Sie positionieren sich nicht als agile Führungskräfte, sondern als Center of Excellence mit Fokus auf Entwicklung, Lernen und Best Practice.
Wie es weitergeht, haben versierte Konzernsoldeten im kleinen Finger: agiles Leitbild, Mission und Vision, Kennzahlen für die Erfolgsmessung und in der Folge Einbeziehen der nächsten Ebene. Kotter schlägt vor, die Organisation nun in zwei Teile zu splitten (duales Betriebssystem). Die alte Hierarchie macht weiter wie bisher, die neue organisiert sich Start-up-gleich wie ein Netzwerk und darf dann und wann sogar die Regeln brechen.
Kotter rät zu schnellen Erfolgen, deren Helden (auch Einzelne, nicht nur Teams) ordentlich beklatscht und gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass eine gewonnene Schlacht noch kein Sieg ist. So bleibt die Dynamik am Laufen, während das agile Gedankengut in die unteren Ebenen einsickert. Irgendwann, in ferner Zukunft, übernimmt das Agile – wenn denn das Management bereit ist, seinen Platz zu räumen.
In die Vision hineinwachsen
Das Gegenstück zu Kotters militärischem Ansatz ist Bottom-up, wie es Linda Rising und Mary Lynn Manns in „Fearless Change“ vorschlagen. „Fearless“ bezieht sich auf die menschliche Angst vor Veränderung. Anders als Kotter sind die Damen überzeugt, dass es keinen starken Mann braucht, um Wandel anzustoßen. Nur einen visionären Prediger aus der Organisation, der fachlich respektiert und menschlich gemocht wird. Auch hier scheiden Externe aus.
Am erfolgreichsten sind jene Prediger, die selbsterfüllende Prophezeiungen schaffen: die so lang ihre Vision verbreiten, bis die Organisation buchstäblich hineinwächst. Ohne Förderer von oben geht natürlich auch hier nichts.
Wieder gibt es Hürden. Etwa den Irrglauben, Veränderungen seien Selbstläufer, hat jeder erst einmal ihren Wert erkannt. Doch leider: Dann schläft die Sache ein. Der Prediger muss die Botschaft so lang trommeln, bis er sie selbst nicht mehr hören kann. Zweiter Stolperstein ist der Umgang mit Skeptikern. Die Idee, sie einfach zu überrollen, ist verführerisch, doch Skeptiker sind wie Eisberge: Sie stehen für die schweigende Mehrheit, die ein Projekt zu Fall bringen kann. Überzeugt man die Skeptiker, folgen sie nach. Die letzte Hürde ist die schwierigste: die Person des Predigers. Hier mussten viele leidvoll erfahren, dass Charismatiker selten sind.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2019)