Das Gesetz der Lebensfähigkeit

Management im Kopf: Folge 13. Die Online-Kolumne stellt das Thema Komplexität in den Mittelpunkt. Diesmal über Stafford Beer, den Begründer der Management-Kybernetik.

In unserer Kolumne „Management im Kopf“ stellt Maria Pruckner führende Forscher vor, deren Beiträge und Denkwerkzeuge für das Meistern von Komplexität sich in der Praxis der Wiener Beraterin und Entwicklerin seit über zwei Jahrzehnten verlässlich bewähren.

Das Gesetz der Lebensfähigkeit

Nach einem Dutzend einführender Beiträge gehen wir hier in die Vollen: Wodurch können Unternehmen oder andere Organisationen ohne fremdes Geld nachhaltig wirtschaften und auf lange Dauer bestehen?

Mit dieser Leitfrage hat der Brite Stafford Beer auf streng wissenschaftlicher Basis die Management-Kybernetik entwickelt. Er stand vor allem im engen Austausch mit Warren McCulloch, Heinz von Foerster, W. Ross Ashby und Gordon Pask. Um die Integration deren Einsichten in ein solides, komplexitätsgerechtes Managementsystem wenigstens anzudeuten, diesmal ein paar Zeilen mehr...

Was das professionelle Anwenden der Kybernetik auf die Fragen des Managements verlangt, hat Beer zwischen 1959 und 1999 in seinem äußerst umfangreichen Lebenswerk beschrieben. Aus dem Hintergrund seiner umfassenden praktischen Erfahrung als Führungskraft und Unternehmensberater.

Wer die beste Information hat, führt

Die Basis für die Entwicklungen von Stafford Beer bildet das Gesetz der Redundanz potenzieller Befehle von Warren McCulloch: Organisiere so, dass immer derjenige entscheiden kann, der die besten Informationen dafür zur Verfügung hat, und sorge dafür, dass alle systemerhaltenden Funktionen jederzeit von mindestens zwei verschiedenen Elementen ausgeübt werden können. Darauf aufbauend integrierte Beer in sein Management-System alle entscheidenden Einsichten der oben erwähnten Autoren.

Das Gesetz der Lebensfähigkeit

Auf vorhersehbare wie auch unerwartete Ereignisse und Zustände rechtzeitig angemessen reagieren zu können, das ist, was Management hervorbringen sollte. Die Konsequenz daraus ist das Gesetz der Lebensfähigkeit von Stafford Beer. Sie setzt eine Lernfähigkeit voraus, die realistische Lagebeurteilungen und erf0lgreiche Entscheidungen erlaubt, eine ausreichende Fehlerrobustheit mit sich bringt und eine Weiterentwicklung des Systems zulässt, bei der die Identität des Systems aufrecht erhalten werden kann.

Dieses kybernetische Gesetz gilt für Menschen ebenso wie für ihre Einrichtungen. Heute deckt es sich weitgehend mit aktuellen wissenschaftlichen Definitionen von Intelligenz. Letztlich hängt sie davon ab, wie lernfähig Menschen in ihren Organisationen sein können.

VSM – wie man Intelligenz organisiert

Um die latent vorhandene Intelligenz in Organisationen für die Wertschöpfung zu mobilisieren, hat Stafford Beer das weltweit erste und bislang verlässlichste Design-Modell für die Organisation lebensfähiger Systeme entwickelt: das Viable System Model oder kurz VSM. Es dient der Diagnose und Prognose von Organisationsproblemen und dem Entwickeln effektiver, lebens- und evolutionsfähiger Organisationen.

Mit dem Viable System Modell beschrieb Beer, welche Regelkreise mit welchen Steuerungs- und Regulierungsfunktionen wie organisiert und miteinander verbunden sein müssen, um die Lebens- und Überlebensfähigkeit von Unternehmen und anderen sozialen Systemen sicherzustellen. Mir ist bis heute kein einziger Fall bekannt, bei dem dieses Modell versagt hätte. Man kann sich auf Beers Werk verlassen wie auf den täglichen Auf- und Untergang der Sonne.

Management-Kybernetik - die große Fremde

Das VSM hat leider den Ruf, extrem anspruchsvoll und kompliziert zu sein. So erscheint das aber nur, wenn man noch nichts von der Kybernetik versteht. Hat man sie verstanden, wird das Arbeiten mit dem VSM glasklar und kinderleicht.

Ich habe Stafford Beer in seinen letzten Lebensjahren als brillanten Menschen kennengelernt, der trotz Erschöpfung weder seinen Humor noch seine Selbstkritik verloren hatte. Die kybernetischen System-Modelle seiner Projekte sind vom Feinsten. Am Ende seines Lebens war er aber unglücklich darüber, sie in so vielen Büchern mit so vielen Worten beschrieben zu haben. In diesen Büchern hat er gleichzeitig die Kybernetik und Unternehmensführung erklärt. Das war und ist für die meisten Leser zu viel auf einmal. Über die Übersetzungen seiner Bücher in andere Sprachen war er regelrecht verzweifelt. Die vielen Worte haben den Durchbruch seines Werks eher verhindert als gefördert. Dass ich von seinen Fehlern lernen durfte, die er selbst identifiziert hatte, war ein großes Privileg.

Heinz von Foerster, unser beider Lehrer, hat radikal die Konsequenzen daraus gezogen. Jede Systemstudie, die ich als dickes Buch bei ihm abgegeben hatte, gab er mir mit den Worten zurück: „Wunderbar, wenn du das Ganze jetzt auf einem einzigen Blatt Papier unterbringst, hast Du es geschafft.“ Auf den Schultern von Giganten entstanden so die zusätzlich erforderlichen kybernetischen Denk- und System-Werkzeuge, mit denen man aus dem VSM rasch und erfolgreich das Beste herausholen kann.

Kurzbiografie Stafford Beer

(c) Allenna Leonard

Geboren 1926 in London, gestorben 2oo2 in Toronto. Während seines Philosophiestudiums am University College London wird er 1944 mit 18 Jahren zum Militärdienst eingezogen. Seine Laufbahn bei der Britischen Armee beginnt als Kanonier in der Royal Artillery, wird aber bald Kompaniekommandant einer Gurkha-Einheit in Indien. 1947 bis 1949 war er Stabschef des Operations Research im britischen Kriegsministerium, er verlässt die Armee im Rang eines Captains. 1949 baut er bei United Steel die weltweit erste Abteilung für Operations Research und Kybernetik im zivilen Bereich auf, die er bis 1961 leitete. Danach gründete er mit Roger Eddison SIGMA (Science in General Management), ein renommiertes Consultingunternehmen. 1966 wurde von einem Kunden als Development Director abgeworben, der International Publishing Corporation, damals der größte Medienkonzern der Welt. 1970 bis 1990 war Stafford Beer als Vollblut-Pionier international für zahlreiche Unternehmen und Regierungen im Einsatz. Beer lehrte an mehreren Universitäten und wurde mit mehreren Ehrendoktoraten geehrt. Was immer heute im Management als selbstverständlich erscheint, etwa die IT und was noch immer nicht selbstverständlich ist: Beer war der Erste, der es entwickelt und umgesetzt hat. Die Darstellung seines Lebenswerks und die mehr als ungewöhnliche Biografie dieses Multigenies finden sich hier.

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche Denkwerkzeuge für angewandte Kybernetik zum Problemlösen, Managen und Führen. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens stattet und bildet sie interne und externe Experten aus, die sich in Unternehmen und Institutionen auf das professionelle Meistern komplexer Situationen konzentrieren.

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Sie wird darauf eingehen.

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