Ich bin doch nicht gestresst!

Management im Kopf: Folge 14. Komplexität meistern. Diesmal über Walter B. Cannon, Vorreiter der Stressforschung und Kybernetik.

In unserer Kolumne „Management im Kopf“ stellt Maria Pruckner führende Forscher vor, deren Beiträge und Denkwerkzeuge für das Meistern von Komplexität sich in der Praxis der Wiener Beraterin und Entwicklerin seit über zwei Jahrzehnten verlässlich bewähren.

Mit zunehmender Digitalisierung steigen der Vernetzungsgrad von Systemen und ihre Verhaltensvielfalt (Komplexität). Als Folge treten immer rascher immer mehr Veränderungen, Unerwartetes und Neues ein sowie oft unbeherrschbare Eigendynamiken.

Unvorhersehbares und Unkontrollierbares zählt man in der Stressforschung zu den mächtigsten Stressoren. Weil sie Menschen, Unternehmen und ganze Gesellschaften ziemlich krank machen, und ein kompakter Überblick helfen könnte, auch diesmal ein paar Worte mehr.

Stress macht dumm

Wenn für Komplexes die Routine fehlt, löst dies per se Stress und Angst aus. Genau das wird nicht von ungefähr am hartnäckigsten ignoriert: Mit einem zu hohen Stresshormonspiegel gehen die Selbstwahrnehmung und Schmerzempfindlichkeit verloren. Man glaubt daher, nicht gestresst zu sein, wenn man stark gestresst ist.

Schon ein bisschen zu viel an Stresshormonen im Blut blockieren zudem das rationale Denken sowie die Lern- und Merkfähigkeit. Dauerstress tötet vor allem gnadenlos genau jene Zellen im Gehirn, die man braucht, um sich etwas zu merken oder an etwas zu erinnern.

Unter Experten und Kennern ist seit Langem klar, dass es kontraproduktiv ist, gestressten Menschen etwas nahebringen zu wollen. Schon gar nicht den professionellen Umgang mit komplexen Systemen. Stress macht also gleich aus mehreren Gründen dumm.

Man muss sie leider dumm sterben lassen

Unter bestens orientierten Fachleuten gilt daher die Parole von Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld: Wenn jemand an der Grenze seiner Lernfähigkeit angelangt ist, muss man ihn leider dumm sterben lassen. Das mag unmenschlich erscheinen, aber noch unmenschlicher ist es, jemanden etwas zu lehren, der nicht lernen kann.

Mit zu stark Gestressten funktionieren weder die Zusammenarbeit, noch der Unterricht, noch Beratung. Die Verantwortung dafür können Betroffene aufgrund der Natur der Dinge leider nie bei sich selbst sehen. Es sind immer die anderen, „die ganz offenbar etwas falsch machen“.

Die besten Köpfe auf dem Gebiet der Komplexitätsbeherrschung laufen aus diesen Gründen genau jenen, die es am dringendsten brauchen würden, nicht gerade die Türen ein. Sie wissen, dass sie nur mit lern- und konzentrationsfähigen Menschen erfolgreich sein können.

Woran man Nicht-Stress erkennt

Das frei sein von Stress erkennt man an folgenden Merkmalen: Man ist mit einer Situation konfrontiert, von der einem klar ist, was man vor sich hat. Was vorliegt, kann durchaus auch eine gigantische Informationslücke sein, das macht nichts. Man weiß, wie man mit der Situation am besten umgeht. Man kann und tut dies auch, es klappt, wenn auch mit Schwierigkeiten, die man aber meistert.

Der Erfolg tritt ein, das bestätigt die eigene Einschätzung, das erhält beziehungsweise erhöht die Selbstsicherheit und das stabilisiert den künftigen Lernprozess, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass man sich auf das Passende fokussiert hat. (Differentialdiagnose: Zauberlehrlinge bilden sich nur ein, alles im Griff zu haben. Statt Erfolg tritt hier aber Misserfolg ein, von dem sie dann nicht wissen, wie man ihn abstellt.)

Warum Stress entsteht

Stress setzt ein, wenn man sich einer Situation nicht gewachsen fühlt beziehungsweise nicht alle erforderlichen Ressourcen zur Verfügung stehen, um sie zu bewältigen. Bei komplexen Problemen ist das immer der Fall. Kein Mensch schafft es, sie alleine zu verstehen oder zu lösen. Das ist ihr wichtigstes Charakteristikum.

Als Vater der Stressforschung gilt der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon. Er beschrieb als Erster die Stressreaktionen Kampf und Flucht. Diese gibt es nicht nur auf der körperlichen Ebene mit den Beinen und Fäusten, sondern auch auf mentaler, insbesondere im Umgang mit Komplexem, Stichwort Kompetenzhygiene.

Die Weisheit des Körpers

Cannon war es auch, der das Phänomen der Selbstregulierung im menschlichen Organismus beschrieb, die Homöostase. Ein Organismus hält seine inneren Zustände und Funktionen durch hochkomplexe Regelkreise in Balance, um seine Lebensfunktionen auch unter veränderten Lebensbedingungen aufrecht zu erhalten, um sich neuen anzupassen beziehungsweise um seine Ziele trotz Störungen in seiner Umgebung zu erreichen.

Mit der Homöostase beschrieb Cannon den Organismus als lernendes System, also seine Lernfähigkeit. Sein berühmtes Werk hat den Titel „The Wisdom of the Body“. Es war das Modell für die Entwicklung der Kybernetik, das Modell eines lebens- und evolutionsfähigen Systems.

Norbert Wiener kannte Walter Cannon seit seiner Kindheit, sein Vater war mit Cannon befreundet. Cannons langjähriger Assistent, Arturo Rosenblueth, arbeitete eng mit Wiener zusammen und war wie er Mitglied des Kernteams der Begründer der Kybernetik.

Führungslose Teams

Die moderne Auffassung, Führungskräfte würden einen Betrieb mehr stören als ihm nützen, basiert auf der fehlenden Ahnung von Homöostase. Hinter ihr steckt vor allem hohe Fehlerintelligenz. Alternativ dazu lässt sich diese Mode auf überinterpretierte Schwarmintelligenz zurückführen.

Wo kommen Vögel, Fische oder Insekten in Betrieben als Mitarbeitende vor? Was vorkommt, sind allerdings ungeeignete Führungskräfte. Das ist aber kein Grund, sich einzubilden, es ginge ganz ohne Hierarchie.

Die Physiologie ist heute wichtiger als BWL

Ob Unternehmer, Aktionär, Aufsichtsrat, Führungskraft, Manager oder Arbeitnehmer: Man muss sich mit Vielem in dieser neuen Welt nicht auskennen, aber damit, wie der menschliche Organismus funktioniert, umso mehr, je mehr man an Erfolg interessiert ist. Das hilft nicht nur, seine eigenen Stressreaktionen zu erkennen und in den Griff zu bekommen.

Es hilft unter anderem, zu verstehen, warum die Libido auch nicht mehr das ist, was sie einmal war, sollte das jemals der Fall sein, und noch viele andere Folgen von Stress zu begreifen. Ganz besonders hilft es aber, die Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens komplexer Systeme zu verstehen und damit, wie man nicht nur Geld ausgibt, sondern auch wieder genug davon hereinbekommt und warum Geld durch Stress wie in ein Schwarzes Loch auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

Kurzbiografie Walter B. Cannon

https://pt.wikipedia.org/wiki/Walter_Bradford_Cannon#/media/File:Walter_Bradford_Cannon_1934.jpg


So gut wie jeder kennt den Adrenalinausstoß bei Stress, viele die Kampf- oder Fluchtreaktion unter Stress oder den Traumatischen Schock. Cannon hat diese Phänomene entdeckt und beschrieben. Er lebte von 1871 bis 1945 in den USA. Seine berufliche Laufbahn sollte ihn ursprünglich zur Eisenbahn führen, eine Lehrerin an der Highschool ermutigte ihn aber, sich trotz Geldmangel für Harvard zu bewerben. An der Harvard Medical School studiert er ab 1896 – 1900 Medizin und lehrt dort ab 1900 als Assistenzprofessor an der Abteilung für Physiologie. Bereits 1906 erhielt er seine Professur und leitete diese Abteilung bis zu seinem Ausscheiden 1942. Er war Präsident der American Physiological Society, stark politisch engagiert und diesbezüglich nicht ganz unumstritten. Mit seinen medizinischen Errungenschaften ist er jedoch in die Geschichte eingegangen, vor allem aber hat er damit die Systemwissenschaften geprägt.

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche Denkwerkzeuge für angewandte Kybernetik zum Problemlösen, Managen und Führen. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens stattet und bildet sie interne und externe Experten aus, die sich in Unternehmen und Institutionen auf das professionelle Meistern komplexer Situationen konzentrieren.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität?
Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner.
Sie wird darauf eingehen.

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