Der Sinn des Ganzen

Management im Kopf: Folge 18. Komplexität meistern. Diesmal über Viktor Frankl. Urheber der Logotherapie und Existenzanalyse.

In unserer Kolumne „Management im Kopf“ stellt Maria Pruckner führende Forscher vor, deren Beiträge und Denkwerkzeuge für das Meistern von Komplexität sich in der Praxis der Wiener Beraterin und Entwicklerin seit über zwei Jahrzehnten verlässlich bewähren.

Im Wesentlichen taucht die Natur des Komplexen in drei Varianten auf. Im Zustand der Unwissenheit kommt sie mit einer Tarnkappe daher: Wovon man nichts ahnt, das erkennt man erst gar nicht oder es erscheint einem zumindest nicht komplex. Mit immer höherer Bildung zeigt sich Komplexität im immer höheren Umfang: Je mehr man über etwas weiß, umso deutlicher wird dessen vielfältiges Verhaltenspotenzial. Wenn ein System außer Kontrolle geraten ist, lernt man die dritte Variante kennen: Dann funktioniert nichts mehr so wie es soll und es wird auf harte Art klar, wie unwirksam die eigene Einflussnahme oder gar Macht ist.

Auslöser der dritten Variante kann Unwissen sein, aber auch viel Wissen, das aber leider unpassend oder falsch für eine Situation ist. Mit meinen bisherigen Beiträgen habe ich daher die wichtigsten Pfade zu passendem und verlässlichem Wissen gelegt. Selbstverständlich gehen von ihnen viele Fußnoten zu vielen weiteren hilfreichen Autoren aus. Mit meinem heutigen Beitrag über Viktor Frankl schließe ich diese Pfade zu einem Kreis.

Sinn statt Motivation

Viele kennen den Psychiater und Neurologen, der mit seiner Logotherapie und Existenzialanalyse eine höchst wirksame psychotherapeutische Strategie entwickelt hat. In der Managementliteratur wird er meist aufgrund seines Sinnkonzepts hervorgehoben.

Allen voran räumte Fredmund Malik mit der Idee auf, man könne Menschen motivieren, er stellte die Selbstmotivation in den Vordergrund. Damit man sich selbst motivieren kann, braucht man eine zuverlässige Antwort auf zwei grundlegende Fragen: Wozu soll das gut sein, was ich machen soll? Was bekomme ich dafür, wenn ich es mache? Diese Bedeutung des Begriffs Sinn hat weniger mit Frankls Sinnkonzept zu tun als mit dem fundamentalen kybernetischen Konzept der Zweck- und Zielorientierung. Die genaue Differenzierung von Zwecken und Zielen zeigt sich meiner Erfahrung nach als wesentlich hilfreicher, als deren Zusammenfassung in Sinn.

Das Ja zum Leben und zum Komplexem

Frankls Ansatz bezog sich vor allem auf wirksame Hilfe für selbstmordgefährdete Menschen. Er konzentriert sich darauf, einen Sinn zu finden, um leben zu wollen und um ein erfülltes Leben leben zu können. Am deutlichsten wird das durch seinen Buchtitel Trotzdem ja zum Leben sagen.

Für mich war es nicht die Sinnfrage bei Frankl, sondern quasi die beiden Säulen des (selbst-)therapeutischen Konzepts von Viktor Frankl, die sich für das Meistern von Komplexem bald als schlichtweg unverzichtbar herausstellten.

Was man ernst nehmen soll

Eine der beiden Säulen nennt Frankl Selbsttranszendenz – hier geht es darum, sich einer Sache oder Person völlig selbstvergessen zu widmen. Das ist nicht nur wichtig, das ist entscheidend. Das Erkennen und Lösen komplexer Probleme verlangt über lange Zeitstrecken volle Konzentration.

Die zweite Säule nennt Frankl Selbstdistanzierung. Man muss über sich selbst lachen können. Wenn man das nicht kann, bleibt man beim Lösen von Komplexem schneller stecken als mit einem Geländewagen im tiefen Schlamm. Sich über seine eigene Blindheit und Dummheit erheitern zu können, erhält und gibt die Kraft zum Weitersuchen und Durchhalten.

Warum funktioniert das?

Frankls Lehre wurde mir in meiner Jugend in meiner Ausbildung zur Krankenschwester nahegebracht und durch viele Fernsehsendungen, in denen er seine Gedanken selbst erläuterte. 1981 lernte ich Frankl am Wiener AKH persönlich kennen. Damals hatte ich seine Bücher mehrmals gelesen, und ich war glücklich, ihm meine brennendste Frage stellen zu dürfen.

„Herr Professor, wie ihre paradoxe Intention funktioniert, habe ich verstanden. Aber, warum funktioniert sie? Das möchte ich begreifen!“ Frankls Antwort kam wie aus der Hüfte geschossen: „In zehn Jahren werden sie es verstanden haben.“ Ein kleiner Satz mit großer Botschaft: So etwas lernt man nicht von heute auf morgen, aber ich traue dir zu, dass du es verstehen lernen wirst.

In der Tat hat dauerte es genau zehn Jahre, bis ich es kapiert hatte. Der Pfad, den er mir mit dem Begriff der „Paradoxie“ gelegt hatte, verlief schnurstracks zu Heinz von Foerster – u.a. für sein Auflösen von Paradoxien berühmt. Heinz von Foerster wiederrum übrigens verdankt seine Laufbahn Viktor Frankl. So schließen sich die Kreise und der erste Zyklus dieser Kolumne.

Kurzbiografie Viktor Frankl

Viktor Frankl
Viktor Frankl(c) APA (GINDL Barbara)

In Wien geboren 1905, gestorben 1997 ebendort. Studium der Medizin, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Dissertation in Philosophie 1948/49. Das Grenzgebiet zwischen Psychotherapie, philosophischer Weltanschauung und der Sinn- und Wertproblematik zeigt sich schon in seiner Gymnasialzeit als sein Lebensthema, erste Publikationen erscheinen noch während seines Medizinstudiums. Seine Logotherapie und Existenzialanalyse entstehen zwischen 1926 und 1939.  Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wird Frankls Laufbahn aufgrund seiner jüdischen Herkunft jäh unterbrochen. Seine Erfahrungen mit dem Überleben im Konzentrationslager verstärken seine schon zuvor entwickelten Ansätze. Frankl wird nach dem Krieg zu den weltweit am meisten beachteten Psychotherapeuten. Als Gastprofessor füllt er an vielen Universitäten die Hörsäle, als Vortragender in zahllosen öffentlichen Veranstaltungen und Autor seiner Bücher wird er für unzählige Menschen zu einem unvergessenen Helfer. Mehr über Frankl und sein Lebenswerk.

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche Denkwerkzeuge für angewandte Kybernetik zum Problemlösen, Managen und Führen. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens stattet und bildet sie interne und externe Experten aus, die sich in Unternehmen und Institutionen auf das professionelle Meistern komplexer Situationen konzentrieren.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität?
Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner.
Sie wird darauf eingehen.

Die gesammelten Kolumnen finden Sie hier.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.