Von der Pflicht, sich zu informieren

Management im Kopf: Folge 24. Komplexität meistern. Diesmal über Bernhard Pörksen, Medien- und Systemtheoretiker an der Universität Tübingen.

In unserer Kolumne „Management im Kopf“ stellt Maria Pruckner versierte Wissenschaftler und anerkannte Experten vor, die über wertvolle Erfahrungen und verlässliches Wissen für den professionellen Umgang mit komplexen Problemen und Systemen verfügen.

In letzter Zeit wurde ich von erfahrenen Führungskräften öfter auf die Business Judgement Rule angesprochen. Das Gesetz verlangt unter anderem, dass Entscheidungen unter angemessener Information getroffen werden. Angesichts der heutigen Informationsdichte ist das in der Tat schwierig. Denn „die Zahl derer wächst, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind“. Davor hat schon in den 1980-ern kein geringerer als Rudolf Augstein gewarnt, der Gründer und Herausgeber des Spiegels. Mit „Komplexität“ meint man in der Wissenschaft daher nicht von ungefähr u.a. auch eine Informationsdichte, die das menschliche Fassungsvermögen überfordert.

Lehrreiche Lerngeschichten

Komplexe Systeme sind lernende Systeme, sie verhalten sich abhängig von ihrer Geschichte. Was ist passiert? Was hat man daraus gelernt? Welche Entscheidungen sind daher gefallen? Zu welchen Wirkungen haben sie geführt? Das etwa sind typische Fragen, um eine Systemgeschichte zu recherchieren.

Lerngeschichten sozialer Systeme sind immer auch Geschichten gesellschaftlicher Kulturen, und sie machen vor keiner Unternehmenskultur halt. Führungskraft ist man also nie nur in einer Organisation, man ist es immer auch in einer Gesellschaft.

Wo liegen heute die Möglichkeiten von Führungskräften für einen angemessenen Umgang mit Information? Heute versuche ich, mit historischen Führungsgeschichten das Interesse für die Medientheorie zu steigern. Und für die Bücher von Bernhard Pörksen, der es hervorragend versteht, wirksame Zusammenhänge zwischen den Systemwissenschaften, modernen Medien und der Gesellschaft aufzuzeigen.

Nandl, der Trottel

1848 in Wien. Kaiser Ferdinand I., damals vom Volk auch Nandl der Trottel, Ferdinand der Gütige oder Gütinand der Fertige genannt, hört von draußen lautes Geschrei. Er blickt aus dem Fenster. Draußen protestierendes Volk der Märzrevolution. „Was machen denn all die vielen Leut‘ da? Die sind so laut!“, fragt er den Fürsten Metternich. „Die machen eine Revolution, Majestät.“ Daraufhin der Kaiser: „Ja, dürfen’s denn das?“ So die Legende.

Bald danach musste Ferdinand I. das Zepter an seinen Neffen abgeben. Er selbst wurde nie so berühmt wie sein  „ja, dürfen’s denn das?“ Mir tut es ein bisserl leid, dass man den Ferdinand einen Trottel geheißen hat. Immerhin hat er ganz im Sinne der Business Judgement Rule Fragen gestellt und sich damit zumindest um das Gewinnen angemessener Information bemüht.

Schon ein Dislike kann töten

Ab 1848 kam es unter Kaiser Franz Joseph vorerst wieder zu wirtschaftlichem und kulturellem Aufschwung. Die Ringstraße entstand, so auch die Wiener Staatsoper. Dem Kaiser hat sie nicht gefallen, sagt man. Sein „dislike“ soll für den Selbstmord von Eduard van der Nüll, dem Architekten der Staatsoper, mitverantwortlich gewesen sein. Franz Joseph hätte das dermaßen bestürzt, so heißt es, dass er künstlerische Arbeit fürderhin nur noch mit „like“ kommentiert haben soll. Konkret überliefert ist die heute berühmte Phrase „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut!“

Mehr braucht es nicht

Ein „dislike“ konnte aber schon immer jemanden in den Tod treiben. Im Zweiten Weltkrieg starben Millionen Menschen qualvoll an einer radikalisierten „like-dislike-Kultur“: die einen in Konzentrationslagern, die anderen an der Front. Das damalige Führungskonzept war die Verschwörungstheorie eines narzisstisch Gekränkten namens Adolf Hitler, der eigentlich gerne Kunstmaler geworden wäre. An der Kunstakademie hat man ihn aber mit einem „dislike“ weggeschickt. Wie anders hätte alles werden können, hätte man ihm dort bloß gesagt: Es war sehr schön, es hat uns sehr gefreut…

Neue Tiefgründigkeit

Nach dem Krieg war es mit der Hochkonjunktur hirnloser (Vor-)Urteile und Kommentare zumindest in der Öffentlichkeit vorübergehend vorbei. Man nahm es mit dem Fragen und Denken wieder genauer. Die übrig gebliebenen Intellektuellen und kritische Journalisten mit starkem Rückgrat trieben erfolgreich eine tiefgründige Diskussionskultur voran, die von hoher Differenziertheit, Integration und einer reichhaltigen Ausdruckweise geprägt war. Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur waren in dieser Zeit hochgewürdigt, es kam zu einem erfreulichen Bildungsschub. Der Gesellschaft tat das durchaus gut, vieles wurde besser, und schöner. Auch das Internet ab etwa den 1990-ern war noch davon geprägt.

Wir sind Web

Mit dem Web 2.0, etwa ab der Jahrtausendwende, gewann jedoch wieder die oberflächliche Kommentarkultur Oberhand. Jeder, der will, kann seither alles, was ihm gerade so in den Sinn kommt, ins Netz stellen, Likes oder Dislikes setzen, kommentieren, tweeten oder retweeten und mehr oder eben leider auch weniger reflektiert als Nachrichtenverteiler eigener und fremder Gedanken im globalen Umfang fungieren. Längst verbreiten auch Social Bots – das sind computergesteuerte künstliche Agenten - Meinungen und Bewertungen, die sich von solchen echter Poster nicht mehr unterscheiden. Aggression, Gewalt, Terror und Krieg beherrschen in derselben Zeit die Tagesthemen.

Sofortismus

Werkzeuge prägen das Verhalten, Medien sind Werkzeuge. Die Menschen bewirken etwas mit den Medien und Medien etwas mit den Menschen. Was hier genau passiert, dieser Frage widmet Bernhard Pörksen, einer der renommiertesten Medienwissenschaftler im deutschsprachigen Raum. Gerade bringt er sein neuestes Buch zu Ende. Deshalb fehlt ihm leider die Zeit, für mein heutiges Thema einen Beitrag zu verfassen. Weil ich sicher bin, dass seine Bücher äußerst hilfreich sind, ist er mit seinem Einverständnis trotzdem mein heutiger Gast. (Der Link zu seinen Büchern findet sich unten bei den Angaben zu seiner Person.)

Für die oberflächliche Meinungsbildung, die heute wieder Überhand gewonnen hat, hat Pörksen den einprägsamen Begriff Sofortismus erfunden. An Ad-hoc-Interpretationen mit maximalem Wahrheitsfuror hat man sich leider auch im Management schon viel zu sehr gewöhnt. Angesichts rein emotional getriebener, blinder Spontanurteile, die ohne Fragen und Zweifel verbreitet werden, wird immer mehr erfahrenen Führungskräften immer unwohler. Sie wissen, dass schnelle Antworten zwar den verunsicherten Geist beruhigen, aber gleichzeitig die Suche nach belastbaren Fakten und verlässlichem Wissen verhindern.

Ja, dürfen’s denn das?

Vorschnelles Denken und Kommentieren verhindert den Erfolg, ganz besonders den dauerhaften. Führungskräfte haben im Einfordern von Fakten und belastbarem Wissen den stärksten Hebel in der Hand. Um der Business Judgement Rule gerecht zu werden, dürfen sie sofortistisches Kommentieren und Bewerten nicht nur verbieten, sie müssen das tun. Wo immer das Verbreiten ungeprüfter Nachrichten und haltloser Meinungen konsequent als no go behandelt wird, wird man die besten Leute als Mitarbeiter und Systempartner gewinnen bzw. halten können.

Kurztherapie

Weil ich gerade meinen Rosengarten mit einem Haufen Rindermist eingewintert habe, fällt mir zum Sofortismus der Bestsellertitel „On Bullshit“ des amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt ein. Wem das Lesen von Büchern nicht liegt, könnte dieses köstlich verfasste kleinwinzige Büchlein helfen, zu ahnen, weshalb man mit der Neigung zum Sofortismus mit Furor baden gehen wird. 

Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut

Das erste Buch von Bernhard Pörksen bekam ich von einem überglücklichen Heinz von Foerster mit folgenden Worten in die Hand, noch bevor es im Buchhandel erschien: „Stell dir vor, der Bernhard wollte ernsthaft wissen, wie ich denke. Der hat nicht schon alles gewusst, der hat mir tolle Fragen gestellt und einen wunderbaren Dialog mit mir geführt!“ Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners – Gespräche für Skeptiker heißt dieses Buch, in dem der Dialog zwischen Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen festgehalten ist. Pörksen scheute auch danach keinen Aufwand, das Denken bedeutender Systemwissenschaftler einer breiten Öffentlichkeit im Original zu vermitteln. Das macht seine Arbeiten so wichtig, dass er sich selbst nicht so wichtigmacht.

Kurzbiografie

Bernhard Pörksen
Bernhard Pörksen(c) BERND BRUNDERT

Prof. Dr. Bernhard Pörksen, geboren 1969, studierte Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg. Es folgten Forschungsaufenthalte in den USA. 1998 erschien sein erstes Buch „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. Dieser Dialog mit Heinz von Foerster gab den Anstoß zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Konstruktivismus und den Systemwissenschaften. Bis zu seiner Promotion 1999 war er vor allem praktisch als Journalist aktiv, ab 2000 Lehrtätigkeit in der Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Seit 2008 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er durch seine zahlreichen Publikationen in führenden Magazinen, Zeitschriften und Online-Medien bekannt, und als Gast vieler TV-und Radiosender. Zu den zentralen Themen seiner Forschungs-, Berater- und Vortragstätigkeit gehören die Dynamik öffentlicher Empörung, Medienskandale und Fragen der Medienethik, Kommunikationsmodelle und Kommunikationstheorien, Inszenierungsstile in Politik und Medien, Journalismus und Prominenz. Bücher und mehr…

Maria Pruckner entwickelt seit 1992 verlässliche kybernetische Denkwerkzeuge für den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik. Als Beraterin, Trainerin und Coach auf diesem Gebiet gehört sie weltweit zu den am längsten dienenden Problemlösern in der Praxis. Sie arbeitet stark vernetzt mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Im Rahmen ihres Unternehmens in Wien stattet und bildet sie interne und externe Experten aus, die sich in Unternehmen und Institutionen auf das professionelle Meistern komplexer Situationen konzentrieren.

Wie geht es Ihnen mit dem Meistern von Komplexität?

Schreiben Sie Ihre wichtigste Frage an Maria Pruckner.
Sie wird darauf eingehen.

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